DemokratieBelgien findet eine neue Mitte

Lesezeit: 3 Min.

Als klarer Favorit für das Amt des Ministerpräsidenten gilt der konservative Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever.
Als klarer Favorit für das Amt des Ministerpräsidenten gilt der konservative Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever. (Foto: Imago)

Die vielen Wahlen dieses Jahres zeigen: Belgiens zersplitterte Demokratie ist durchaus robust. Die Hoffnung auf stabile Verhältnisse trägt den Namen „Arizona“.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Es gibt wohl kein Nachbarland, das die Deutschen weniger kennen als Belgien. Das ist keine Schande, denn selbst vielen Belgierinnen und Belgiern erscheint ihr Land als terra incognita – als unbekanntes Land, zumindest in politischer Hinsicht.

Seit 1970 haben sechs Staatsreformen den einstigen Zentralstaat immer weiter zergliedert in drei Regionen, drei Sprachgemeinschaften, zehn Provinzen und 581 Kommunen. Die nationale Regierung hat zu wenig Macht, um ihre Kernaufgaben zu erfüllen, zum Beispiel bei der Verbrechensbekämpfung. Eine nationale Medienlandschaft gibt es ebenso wenig wie eine nationale Parteienlandschaft. Deshalb fehlen auch nationale Identifikationsfiguren, die die Unverträglichkeiten zwischen den niederländischsprachigen Flamen und den französischsprachigen Wallonen, also die Wurzel des belgischen Problems, eindämmen könnten.

Nun dürfen die Belgier wenigstens auf stabile Verhältnisse hoffen

Nationale Koalitionsverhandlungen haben deshalb zuletzt länger als ein Jahr gedauert. Die Bündnisse waren aus der Not geboren und wurden zusammengehalten durch das Übermaß an Geld, das ausgegeben wurde. Vor dem belgischen Superwahljahr 2024 mit Wahlen auf allen Ebenen des Staates gab es deshalb die Befürchtung, der Tausend-Teile-Staat könnte bis zur Handlungsunfähigkeit auseinanderfallen. Nun, nach den Kommunalwahlen vom Sonntag, gibt es zumindest die Hoffnung auf stabile Verhältnisse in Belgien.

Es haben sich in sämtlichen Wahlen dieses Jahres zwei Parteien durchgesetzt, die das Land zusammenhalten können. Als stärkste Kraft in Flandern behauptete sich die national-konservative Partei N-VA. Ihr Programm ist kompatibel mit jenem der Liberalen, die in Wallonien die Sozialisten als Nummer eins abgelöst haben. Die beiden Parteien wollen gemeinsam mit Einschnitten in den Sozialstaat die bedrohliche Schuldenlast Belgiens abbauen und die Wirtschaft wieder in Schwung bringen.

Was ebenfalls Hoffnung auf Stabilität macht: Als klarer Favorit für das Amt des Ministerpräsidenten gilt der Antwerpener Bürgermeister Bart De Wever, 53, Chef der N-VA. Viele Jahre lang profilierte er sich als Separatist, der die Unabhängigkeit Flanderns mit allen Mitteln erzwingen wollte. Er widerstand aber der Versuchung, dafür ein Bündnis mit den Rechtsextremen von Vlaams Belang einzugehen. De Wever nennt nun die CSU als Vorbild.

Doch kein „Schnellzugtempo“ bei der Regierungsbildung

Bart De Wever hatte sich vorgenommen, nach den nationalen Wahlen am 9. Juni im „Schnellzugtempo“ eine Regierungskoalition zu bilden, noch vor den Kommunalwahlen. Das ist ihm nicht gelungen, kurz musste er sogar den Auftrag zur Regierungsbildung an den König zurückgeben. Die Kommunalwahlen am Sonntag haben seinen Ruf als Flanderns Nummer eins noch gestärkt, dennoch zieht es ihn weiterhin nach Brüssel. Belgien, so sagt De Wever, müsse statt des Schnellzugs nun eben „den Bus nehmen“. Am Mittwoch sollen die Verhandlungen wieder aufgenommen werden.

Das Bündnis zwischen flämischen Nationalisten und wallonischen Liberalen wird aller Voraussicht nach komplettiert durch die flämischen Sozialdemokraten, die flämischen Christdemokraten und die Nachfolgepartei der wallonischen Christdemokraten, die sich nun „Les Engagés“ nennen. Aufgrund der Parteifarben trägt die Koalition in Belgien den Namen „Arizona“. Alle Arizona-Parteien erwiesen sich bei den Kommunalwahlen als relativ robust, obwohl ihr mutmaßliches gemeinsames Regierungsprogramm von der Konkurrenz schon heftig bekämpft wird.

Bis 2028 bliebe der Arizona-Koalition Zeit, Belgien zu sanieren und vielleicht auch eine weitere Staatsreform anzustoßen, die die Zuständigkeiten im belgischen Föderalismus entzerrt. Eine Ahnung davon, was Belgien droht, sollte das Land keine neue Mitte finden, vermitteln die Erfolge extremer Parteien vom Sonntag.

Die Rechtsextremen stellen erstmals einen Bürgermeister

Die marxistische PTB hat die ökologischen Parteien in Belgien überflügelt und wird möglicherweise erstmals eine belgische Kommune mitregieren. Es handelt sich um die Brüsseler Gemeinde Molenbeek, wo die sozialistische Bürgermeisterin ein Bündnis mit der PTB anstrebt. Molenbeek ist mit seinen 100 000 vorwiegend muslimischen Einwohnern von hoher Symbolkraft für ganz Belgien. Konservative und Liberale werfen der Linken vor, sie ließen zu, dass sich in der belgischen Gesellschaft muslimische Parallelwelten bilden. Als Beleg dafür gilt Molenbeek.

Diese Debatten werden noch befeuert durch den Aufstieg eines Brüsseler Bündnisses namens „Team Fouad Ahidar“. Ahidar, ein ehemaliger Sozialist, macht gezielt Politik für die marokkanische Gemeinschaft in Belgien. Den Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 nannte er „eine kleine Antwort“ der Hamas auf die Politik Israels. Seiner Beliebtheit hat das nicht geschadet, wie die Wahlergebnisse vom Sonntag zeigen.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kann die rechtsextreme Vlaams Belang erstmals einen Bürgermeister stellen, und zwar in der ostflämischen Stadt Ninove mit knapp 40 000 Einwohnern. Vlaams Belang hat bei allen Wahlen dieses Jahres zugelegt, getragen von ihrer Polemik gegen die angeblich ungezügelte Zuwanderung in Belgien. Aber ihr ist es nicht gelungen, zur führenden Kraft des Landes aufzusteigen, was Umfragen zu Beginn des Jahres noch möglich erscheinen ließen.

Die föderale belgische Demokratie hat sich also als verhältnismäßig robust erwiesen im Superwahljahr 2024. Das gilt auch für die Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen in Flandern. Obwohl die flämische Regierung die in Belgien ansonsten übliche Wahlpflicht abgeschafft hat, gaben zwischen 60 und 70 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab – enttäuschend für Belgien, aber im Vergleich zu anderen Ländern durchaus beachtlich.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Serie: Wie habt ihr das gemacht?
:Wie Belgien Kompromisse zur Kunstform erhebt

Notfalls wird mal kurz der König beurlaubt: Der belgische Staat ist ein wahres Labyrinth, aber die Politik findet immer einen Ausweg. Europa kann davon einiges lernen.

SZ PlusVon Josef Kelnberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: