Flucht und Asyl:Warum Belgien systematisch gegen das Recht von Migranten verstößt

Lesezeit: 2 Min.

Asylbewerber in Brüssel. Eigentlich müsste die Regierung für jeden von ihnen eine Unterkunft bereitstellen - aber sie schafft es nicht. (Foto: Philip Reynaers/Imago)

Männliche Asylbewerber ohne Begleitung erhalten vom Staat kein Quartier mehr, sie landen auf der Straße. Belgiens Regierung findet keine Lösung - und fühlt sich von Europa alleingelassen.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Wer sich einen Eindruck von Problemen der europäischen Migrationspolitik verschaffen will, muss nicht unbedingt nach Griechenland oder Italien reisen, wo rechte und konservative Regierungen auf fragwürdige Weise mit Migranten umspringen. Es genügt eine Reise ins liberal regierte Belgien, nach Brüssel, zur Ausländerbehörde am Boulevard Pachéco Nummer 44, ganz in der Nähe von Stadtzentrum und Europaviertel.

Menschen, die in Belgien Asyl beantragen, stehen hier Schlange, vielmehr: Sie stehen in zwei Schlangen. Die erste Schlange bilden Familien, Frauen, Kinder. Die zweite Schlange bilden Männer, die ohne Begleitung angekommen sind. Niemandem wird der Asylantrag verwehrt, aber die Personen in Schlange zwei werden sofort informiert: Sie werden in den staatlichen Einrichtungen keine Unterkunft finden und sollen sich deshalb an gemeinnützige Einrichtungen wenden.

Weil aber auch die längst überfüllt sind, bedeutet das in der Praxis, dass die Männer für unabsehbare Zeit auf der Straße landen - neben Obdachlosen, häufig in der Nähe der wachsenden Brüsseler Drogenszene.

Hunderte Migranten haben erfolgreich geklagt, dass die Regierung einen Platz für sie schafft

Schon seit Monaten hat der belgische Staat Probleme, männlichen Migranten Quartiere zu verschaffen. Die für Migration zuständige Staatssekretärin Nicole de Moor, eine Christdemokratin, hat nun ganz offiziell erklärt: keine Aufnahme für einzelne Männer mehr. Man müsse sich auf den Winter vorbereiten und unbedingt sicherstellen, dass Familien eine feste Bleibe haben. Das ist insofern ein bemerkenswerter Vorgang, als ein staatlicher Rechtsbruch damit zur offiziellen belgischen Regierungspolitik erklärt wurde.

Mehr als 500 Migranten haben bereits mit ihren Klagen vor belgischen Gerichten recht bekommen. Die Regierung wurde dazu verpflichtet, Platz für alle zu schaffen, aber sie kann dieser Verpflichtung bis heute nicht nachkommen. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte befasst sich immer wieder mit dem Thema. Er sprach im November vergangenen Jahres 148 Einzelurteile gegen den Staat Belgien aus. Vor einigen Wochen kam er erneut darauf zurück und beklagte einen "systematischen Rechtsbruch".

Die Ankündigung der Staatssekretärin de Moor hat nun großen Wirbel verursacht. Die EU-Kommission meldet Gesprächsbedarf an, Flüchtlingsorganisationen zeigen sich empört, auch innerhalb der Sieben-Parteien-Regierungskoalition regte sich Widerstand. Premierminister Alexander De Croo, ein Liberaler, berief eine Krisensitzung ein und erklärte hinterher, der Bannstrahl gegen die Männer gelte nur "vorübergehend". Das ist ein typischer belgischer Kompromiss, denn nichts ist in diesem Land dauerhafter als vorübergehende Lösungen.

Viele der 63 000 Flüchtlinge aus der Ukraine konkurrieren mit Asylbewerbern

Der Regierung De Croo wird nun allenthalben Kaltherzigkeit vorgeworfen, aber ihr Versagen liegt auch im ausgeprägten Föderalismus begründet. Sie hätte gar nicht die Autorität, den Regionen einen nationalen Notfallplan aufs Auge zu drücken, um Platz für Migranten zu schaffen. Vor allem die Flamen wehren sich gegen jeglichen Anschein von Bevormundung aus Brüssel. Andererseits fühlt sich die Regierung angesichts der wachsenden Flüchtlingszahlen von Europa im Stich gelassen. Und auch dafür gibt es gute Gründe.

Alle Nachrichten im Überblick
:SZ am Morgen & Abend Newsletter

Alles, was Sie heute wissen müssen: Die wichtigsten Nachrichten des Tages, zusammengefasst und eingeordnet von der SZ-Redaktion. Hier kostenlos anmelden.

36 000 Asylanträge wurden vergangenes Jahr registriert, etwa doppelt so viele wie 2021. Damit sei Belgien, wenn die Zahl im Verhältnis zur Einwohnerzahl betrachtet wird, in der Spitzengruppe in Europa, sagt Staatssekretärin de Moor und verweist auf Portugal, das mit einer ähnlich großen Bevölkerung nur 1500 Menschen aufgenommen habe.

Hinzu kommen in Belgien 63 000 Flüchtlinge aus der Ukraine, von denen viele mit Asylbewerbern um Quartiere konkurrieren. Erst letztes Jahr wurden 4000 neue staatliche Unterkünfte geschaffen, damit liegt die Gesamtkapazität bei 33 000 Plätzen, so hoch wie nie. "Unser Land leistet seit Langem mehr, als es eigentlich müsste", sagt Staatssekretärin de Moor.

Im vergangenen Winter mussten ganze Familien wochenlang bei Minusgraden in Zelten am Brüsseler Kanal ausharren. Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich solche Bilder im kommenden Winter nicht wiederholen würden.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusBrüssel
:Europas schmuddelige Visitenkarte

Drogen, Gewalt, Verwahrlosung: Wer in Brüssel am Südbahnhof ankommt, dem zeigt sich die EU-Hauptstadt gleich mal von ihrer hässlichsten Seite. Jetzt soll aufgeräumt werden.

Von Josef Kelnberger

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: