Alexander De Croo verabschiedete sich mit Tränen in den Augen. Der 48-jährige Belgier ist ein smarter, vielsprachiger, weltgewandter Mann, der sein Land als Regierungschef auf der internationalen Bühne bestens repräsentierte. Auch zu Hause in Belgien bescheinigten ihm alle Umfragen hohe Beliebtheitswerte. Und nun der Absturz bei den Parlamentswahlen am Sonntag: 5,4 Prozent für seine liberale Partei, damit nur Rang neun im nationalen Klassement. De Croo zog daraus die Konsequenzen und trat am Sonntagabend als Regierungschef zurück. Er führt die Geschäfte nur noch kommissarisch.
Im vergangenen Jahr hatte Alexander De Croo noch ein hoffnungsvolles Buch veröffentlicht mit dem Titel: „Das Beste kommt erst noch“. Nun sagte er seinen Parteifreunden vom Podium herab zum Abschied: „We come back!“ Dann schossen ihm die Tränen in die Augen.
Tiefer Graben zwischen Flandern und Wallonien
Die belgische Politik ist wegen der gespaltenen Parteienlandschaft – ein tiefer Graben verläuft zwischen den Regionen Flandern und Wallonien – eine komplexe Angelegenheit und deshalb manchmal tatsächlich zum Heulen. Das zeigt sich an Alexander De Croos Aufstieg und Absturz.
Nach den Wahlen im Jahr 2019 hatte man mehr als ein Jahr lang vergeblich um eine Regierungskoalition gerungen. Dann endlich fand sich ein fragiles Bündnis aus sieben Parteien zusammen. Darin waren allerdings die Wähler aus Wallonien stärker repräsentiert als jene aus Flandern. Die stärkste flämische Partei fehlte. Auch deshalb einigte man sich auf Alexander De Croo als Regierungschef. Er gehört der in der Region Flandern beheimateten liberalen Partei (Open VLD) an und bildete in der Regierung sozusagen das Gegengewicht zur wallonischen Dominanz.
Nun ist De Croo bei den Wahlen von seinen flämischen Landsleuten für seine Rolle als Mittler abgestraft worden. Was ihm vorgeworfen wird: Seine Koalition sei zu lax in Sachen Migration gewesen, und sie habe zu viel Geld ausgegeben. Die Menschen in der wohlhabenden Region Flandern finden, beides gehe auf ihre Kosten.
Nach den Wahlen vom Sonntag hat wieder einmal der König das Wort. Laut Verfassung kommt ihm in Belgien die Aufgabe zu, die Regierungsbildung zu steuern. Philippe hat seit dem Wahlsonntag bereits einige Parteichefs in seinem Palast empfangen. Und tatsächlich besteht die Hoffnung, dass er nicht wieder mehr als ein Jahr lang auf Flämisch und auf Französisch trotzige Politikerinnen und Politiker beknien muss, sich doch bitte kompromissbereit zu zeigen.
Auch Wallonien ist ein Stück weiter nach rechts gerückt
Das liegt an der Gesamtheit der Ergebnisse des Superwahlsonntags mit dem Dreiklang aus Europawahl, nationaler Wahl und drei Regionalwahlen in Flandern, Wallonien, Brüssel-Hauptstadt (zusätzlich wählte die Deutschsprachige Gemeinschaft ihr Parlament). Daraus lässt sich mit ein wenig gutem Willen eine Koalition schmieden, die den Graben zwischen Flamen und Wallonen zwar nicht zuschüttet, aber zumindest überbrückt.
In Flandern haben die Nationalkonservativen (NV-A) des Antwerpener Bürgermeisters Bart De Wever ihren Rang als stärkste Kraft verteidigt. Das kam überraschend, nachdem alle Umfragen den rechtsextremen flämischen Separatisten (Vlaams Belang) einen Triumph vorhergesagt hatten. Die beiden Parteien fordern mehr Autonomie für die Region Flandern bis hin zur Unabhängigkeit. Aber De Wever, ein Bewunderer der bayerischen CSU, scheint bei seiner Linie zu bleiben: Er will nicht mit den Rechtsextremen paktieren, und er ist bereit, Verantwortung für ganz Belgien zu übernehmen. Dabei kommt ihm das wallonische Ergebnis entgegen.
In Wallonien haben die Sozialisten (PS) ihren traditionellen Rang als stärkste politische Kraft eingebüßt. Die Unfähigkeit der wallonischen Sozialisten, gemeinsam mit den flämischen Nationalkonservativen eine Regierung zu bilden, hat die belgische Politik viele Jahre lang gelähmt. Nun ist auch Wallonien politisch ein Stück weiter nach rechts gerutscht. Bestimmende Kraft sind jetzt die Liberalen (MR), denen zum Beispiel der EU-Ratspräsident Charles Michel angehört. Ihr Anführer Georges-Louis Bouchez hat bereits angekündigt, dass er sich eine Allianz mit den flämischen Nationalkonservativen von Bart De Wever vorstellen kann.
Würden die stärkste flämische und die stärkste wallonische Kraft zusammenfinden, ließe sich um das Duo herum eine tragfähige Koalition bauen. Eine wichtige Rolle könnten darin auch „Les Engagés“ spielen, die Nachfolgepartei der wallonischen Christdemokraten. Sie verzeichnete am Sonntag große Zugewinne, in Wallonien und auch in der Region Brüssel. Nähme man die flämischen Christdemokraten (CD&V) und die flämischen Sozialdemokraten (Vooruit) hinzu, ergäbe das eine ausgewogene Koalition. In den meisten Planspielen fehlen die Grünen. Sie haben sowohl in ihrer wallonischen als auch ihrer flämischen Ausprägung schwere Verluste hinnehmen müssen.
Die Menschen in Europa werden sich in jedem Fall den Namen eines neuen belgischen Ministerpräsidenten merken müssen. Er könnte Bart De Wever heißen und aus Flandern kommen. Er könnte Georges-Louis Bouchez heißen und aus Wallonien kommen. Es kann aber auch ganz anders kommen. Die belgische Politik hat schon vielen Menschen Tränen in die Augen getrieben.