Süddeutsche Zeitung

Belgien:Warum es einen Streit um "Ostbelgien" gibt

  • Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien hat Angst, in Vergessenheit zu geraten und sich deswegen einen neuen Namen gegeben.
  • Die 77 000 Einwohner nennen sich nun selbst "Ostbelgien", wenn auch nur inoffiziell. Das aber kommt nicht überall gut an.

Von Pia Ratzesberger, Eupen

Sie weiß nicht, was der neue Name ändern soll. Tanja Freisen verschränkt die Arme, vor sich Hunderte Pralinen, belgische natürlich, aber mit Belgien ist das so eine Sache. Ihre Heimat soll nun anders heißen, die Deutschsprachige Gemeinschaft hat sich umbenannt. Sie nennt sich jetzt Ostbelgien. Das sei typisch für dieses Land, jeder mache sein eigenes Ding, sagt Freisen. Sie hebt die Augenbrauen, blickt nach draußen, durch das Schaufenster des Pralinenladens. Dort, gegenüber, hat der Ministerpräsident der Deutschsprachigen Gemeinschaft seinen Sitz. Er hat Angst, dass keiner mehr kommt nach Eupen, nach Büllingen und nach St. Vith.

Der Regierungschef glaubt, dass zu wenige Menschen seine Gemeinschaft kennen, dass kaum jemand versteht, wer diese Gemeinschaft überhaupt ist. Deshalb gibt es nun den neuen Namen, deshalb das neue Schild in der Gospertstraße in Eupen: Ostbelgien. In einem Land wie diesem mit drei so unterschiedlichen Gemeinschaften und drei so unterschiedlichen Regionen befürchtet immer einer, übersehen zu werden.

Die Deutschsprachige Gemeinschaft in Belgien zählt ungefähr 77 000 Einwohner, trotzdem hat sie einen eigenen Ministerpräsidenten. Auf manchen Autos in Eupen pappt noch ein Aufkleber: DG für Deutschsprachige Gemeinschaft, aber für die Abkürzung gab es auch fantasievolle Erklärungen, "Dolce und Gabbana" war eine von ihnen, "Dumm Gelaufen" eine andere. Unter dem Namen Deutschsprachige Gemeinschaft stellten sich die meisten eine kleine Gruppe Deutscher im Ausland vor, wie Italiener in New York, Griechen in London. Aber kein Bundesland, das war das Problem. Auf dem Marktplatz in Eupen ist immer wieder zu hören: Die Gemeinschaft beachte keiner, nicht einmal im Rest des Landes.

Der neue Name sei ein klares Bekenntnis zu Belgien, sagt der regionale Regierungschef

Belgien, das sind drei Regionen und drei Sprachgemeinschaften, in der Verfassung gleichgestellt, letztlich also wie sechs Bundesländer. Es sind die Regionen Flandern im Norden, die Wallonie im Süden und im Zentrum die Hauptstadt Brüssel. Und es sind die Flämische Gemeinschaft im Norden, die Französische Gemeinschaft im Süden und die Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten. Die Aufgaben unterscheiden sich, die Regionen sind zum Beispiel für die Wirtschaft zuständig, die Gemeinschaften für die Kultur. Immerhin sind die Region Flandern und die Flämische Gemeinschaft miteinander verschmolzen, so dass es nur fünf Parlamente gibt, manchmal aber haben diese enorme Macht.

Im vergangenen Jahr wäre fast das Handelsabkommen Ceta zwischen Kanada und der Europäischen Union gescheitert, weil die Wallonen nicht zustimmen wollten. Die landesweite Regierung Belgiens hat wegen der komplizierten Verhältnisse vor ein paar Jahren sogar den Weltrekord gebrochen. 541 Tage ohne neue Regierung, weil die Wallonen und die Flamen sich mal wieder nicht einig waren.

Tanja Freisen erinnert sich noch an diese Monate, in ihrem Leben damals habe sich aber nichts verändert, trotz Weltrekordes. Sie ist 35 Jahre alt, sie mag den süßen Geruch im Laden, den Plausch mit älteren Damen. Manon ist die beliebteste Sorte, Kaffee, Nougat, Buttercreme. Eine Werbeagentur würde jemanden wie Tanja Freisen für die DG wahrscheinlich am liebsten auf Plakate drucken, die Pralinen gleich mit. Sie lebt gern in Eupen, überhaupt, in Belgien. Auch wenn viele nicht verstehen, wo sie da lebt, weil sie nichts von der Deutschsprachigen Gemeinschaft wissen und erst recht nichts von deren Regierung.

Eines aber fragten sie alle, sagt Freisen, eine schwarze Schürze über der schmalen Jeans, sie beugt sich nach vorne: "Ja, sprichst du dann Belgisch?" Wie absurd, sie schüttelt den Kopf. Sie spricht Deutsch und Französisch, wie viele hier, sie versteht Flämisch. "In Belgien machen wir unsere größte Stärke zu unserer größten Schwäche", sagt sie. Ein Land könnte angeben mit den vielen Sprachen und Regionen und Gemeinschaften. Wo sonst gibt es das in Europa?

Das Königreich Belgien - denn einen König gibt es ja auch noch - ist heute ein solch kleinteiliges Land, weil man jeder Gruppe gerecht werden wollte. Schon im 18. Jahrhundert sprachen die Menschen im Osten deutsche Dialekte, niederfränkisch, rheinfränkisch, moselfränkisch. Im Ersten Weltkrieg kämpften sie an der Seite des Deutschen Reiches, mit dem Versailler Vertrag aber ging das Gebiet an Belgien. Die Verfassung erkannte zum ersten Mal 1970 die verschiedenen Sprachen und Gemeinschaften an. Die Deutschsprachige ist die kleinste, wohl auch deshalb beachten sie so wenige. Aber das soll sich nun ändern, zumindest wenn es nach dem Ministerpräsidenten geht, in der Gospertstraße 42.

Oliver Paasch ist spät dran, er stand im Stau auf dem Weg von Brüssel nach Eupen, von Regierungssitz zu Regierungssitz. Er war mal wieder Werbung machen, wie so oft in diesen Wochen. Es gibt einen Imagefilm der DG mit Kühen und Wäldern, in dem heißt es, 22 Prozent der Bevölkerung seien unter 18 Jahre alt, in Deutschland waren es zuletzt um die 15 Prozent. Eine kleine, junge Gemeinschaft also, Paasch aber sagt: noch. "Uns steht eine sehr ungünstige Entwicklung bevor." Die Alten gehen in Rente, Junge kommen nicht nach, auch im Nachbarstaat Deutschland ein Problem. Doch bei 77 000 Einwohnern fällt das mehr auf als bei 82 Millionen. Die Frage ist nur, ob ein neuer Name daran etwas ändert. Paasch ist jemand, der daran glaubt.

Noch ziehen ein paar Leute her, arbeiten oft jenseits der Grenze, und der Eupener Regierungschef befürchtet, dass dorthin auch die Firmen folgen. Sie haben in Eupen zum Beispiel das Kabelwerk, Fertigung von Glasfaserkabeln, Telefonkabeln, Stromkabeln. Mehr als 800 Mitarbeiter, manche Rentnerin erzählt im Café noch von den Stunden an der Maschine. Damit solche Firmen bleiben und andere kommen, hat Paasch mit einer Werbeagentur die neue Marke entwickelt, auf seinem Briefpapier steht oben rechts "Ostbelgien". Links ist in kleinerer Schrift zu lesen: "Regierung der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens".

Laut Verfassung darf Paasch, 45 Jahre alt, seine Gemeinschaft nicht mal eben umbenennen. Bei allem, was mit "Gesetz und Geld" zu tun hat, muss er weiter von der Deutschsprachigen Gemeinschaft sprechen. Aber die Wallonen würden doch längst mit der Marke Wallonie werben und die Flamen mit der Marke Flandern, da müsse man nachziehen, sagt er. Beide Regionen preisen ihre Vorzüge im Internet an, in beiden kann man demzufolge sehr gut wandern, sehr gut Rad fahren und sehr gut Bier trinken. In Ostbelgien aber auch. Der neue Name sei wichtig, sagt Paasch, weil er ein klares Bekenntnis zu Belgien sei. Auch wenn das nicht alle so sehen.

Das belgische System aus Regionen und Gemeinschaften zieht sich diese kleine Straße in Eupen entlang. Rechts das Schild mit dem Namen Ostbelgien. Links der Wegweiser zur Wallonie. In der Gospertstraße 2 hat die Region ein Infobüro eingerichtet, in deren Gebiet nämlich liegt die Deutschsprachige Gemeinschaft, zum neuen Namen will man sich hier nicht äußern. In der Wallonie selbst staunt mancher, dass eine solch kleine Gemeinschaft für sich den Begriff Ostbelgien beansprucht, in Brüssel warnt ein Professor für Staatsrecht, Marc Uyttendaele, bereits vor möglichen Missverständnissen. Ostbelgien oder Ostkantone nannte man früher zum Beispiel das Gebiet, das der Versailler Vertrag vom Deutschen Reich trennte, dieses Gebiet aber war größer als das der Deutschsprachigen Gemeinschaft heute ist.

Oliver Paasch wollte die Bürgermeister der umliegenden französischen Gemeinden kürzlich fragen, ob sie nicht auch mit der Marke Ostbelgien werben wollen - von neun Bürgermeistern sind nur drei erschienen. Der Ministerpräsident hofft auf mehr Interesse beim zweiten Treffen, wenn sich das mit Ostbelgien herumgesprochen hat.

In den Straßen von Eupen hat es das bereits, die einen lächeln, die anderen zucken mit den Achseln, die meisten sehen es wie Tanja Freisen. Als der Kunde mit der Asterix-Schokolade aus der Tür raus ist, lehnt sie am Tresen. Letztlich sei es egal, ob sie sich nun Ostbelgien oder DG nennen würden, sagt sie. Wenn jemand frage, wo sie herkomme, antworte sie immer: "Ostbelgien nahe der deutschen Grenze." Wenn jemand frage, welcher Nation sie sich zugehörig fühle, sagt sie: "Ich bin Belgierin." Was auch immer auf einem Schild in der Gospertstraße steht.

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SZ vom 27.05.2017/jael
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