Drogenkrieg in Brüssel:„Diese Dreckskerle schrecken vor nichts mehr zurück“

Lesezeit: 3 Min.

Belgische Polizisten untersuchen ein Viertel in Brüssel, in dem ein Mann erschossen wurde –  offensichtlich ein Opfer von Drogengangs. (Foto: NICOLAS TUCAT/AFP)

Die Brüsseler Drogenbanden begleichen ihre tödlichen Rechnungen sogar in Gegenwart der Polizei und halten damit die Stadt in Atem. Die neue belgische Regierung will nun endlich durchgreifen.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Zwei junge Männer, Sturmhaube über dem Gesicht, feuern frühmorgens vor einer Brüsseler Metrostation Warnschüsse aus ihren Kalaschnikows ab. So ist das auf Videos zu sehen, die Anfang Februar von Sicherheitskameras aufgenommen wurden. 23 Patronenhülsen fand die Polizei später und fünf Einschüsse in einer Hauswand.

Menschen wurden nicht verletzt, aber wegen der – erfolglosen – Jagd auf die Schützen wurde eine zentrale Achse des öffentlichen Nahverkehrs in Brüssel einen halben Tag lang gesperrt. Die Täter waren durch die U-Bahn-Tunnel geflüchtet. Seither gilt der Krieg der Drogenbanden in Brüssel nicht mehr nur als ein Phänomen einiger migrantisch geprägter Stadtteile, wo immer wieder junge Männer in ihrem Blut liegen. Das Bewusstsein in der Öffentlichkeit hat sich verändert: Es gibt da ein Problem, das alle angeht.

Der Staat hat das Problem jahrelang nicht ernst genommen

Die neue Regierung unter dem konservativen Premierminister Bart De Wever hat dafür gesorgt, dass jetzt mehr Polizisten und Sicherheitsleute in der Stadt zu sehen sind, vor allem in der U-Bahn und an den Brennpunkten des Drogenkriegs. Befriedet ist Brüssel aber dadurch nicht, im Gegenteil. Zwei junge Männer wurden binnen einer Woche in der Gemeinde Anderlecht in der Region Brüssel erschossen, der letzte am vergangenen Samstagabend. Und in beiden Fällen waren Polizisten weniger als hundert Meter vom Tatort entfernt. Sie konnten weder die Tat verhindern noch die Täter festnehmen. Der öffentliche Nahverkehr war wegen der Fahndung wieder stundenlang lahmgelegt.

„Diese Dreckskerle schrecken vor nichts mehr zurück“, sagte Fabrice Cumps, Bürgermeister der Brüsseler Gemeinde Anderlecht, am Samstagabend, nachdem er am Tatort die Leiche eines 19-Jährigen gesehen hatte. Manche Ecken der 120 000 Einwohner zählenden Kommune sind offensichtlich außer Kontrolle geraten. Das Drogengeschäft gehört zum Straßenbild, der Revierkampf der Banden nimmt immer drastischere Formen an. Es gibt keine offiziellen Zahlen zu den Schießereien in Brüssel, aber vergangenes Jahr waren es wohl um die hundert, es gab etwa ein Dutzend Tote. Noch mehr Polizei auf die Straße zu schicken, sei dringend nötig, sagte Bürgermeister Cumps, aber allein keine Lösung mehr. Der belgische Staat müsse das Problem endlich grundsätzlich angehen.

Innenminister Bernard Quintin berief für diesen Montag eine Krisensitzung mit allen Sicherheitsbehörden des Landes ein. Man wollte beraten, wie kurzfristig für Ruhe auf den Straßen zu sorgen ist und wie langfristig das Drogengeschäft lahmgelegt werden kann. Es gibt jede Menge aufzuarbeiten, denn der belgische Staat hat das Problem jahrelang nicht ernst genommen.

Neuer Trend: Kalaschnikows in den Händen von Teenagern

Ursprung der belgischen Drogenflut ist vor allem der Hafen von Antwerpen, Europas größtes Einfallstor für Drogen, vor allem für Kokain aus Südamerika. Ein großer Teil des Stoffes kommt von Antwerpen nach Brüssel, wo er weiterverarbeitet wird, nicht nur für den örtlichen Konsum. Der Drogentransport von Brüssel in den Rest Europas ist zu einem eigenen Geschäftsmodell geworden. Und das Big Business der Banden wird erleichtert durch die Machtlosigkeit des belgischen Zentralstaates.

Der belgische Föderalismus, getrieben vom Streit zwischen Flamen und Wallonen, führt zu einer absurd anmutenden Zersplitterung der Sicherheitskräfte. Bundesstaat, Regionen und Kommunen schieben einander öffentlich die Schuld zu. Allein in Brüssel gibt es sechs eigenständige Polizeieinheiten.  Die neue Regierung hat sich nun vorgenommen, alle Kräfte zu bündeln. Sie will vor allem die Bundespolizei mit mehr Personal ausstatten. Die ist bislang genauso unterfinanziert wie die nationalen Justizbehörden.

Es gelte nun, die Netzwerke des Drogengeschäftes zu identifizieren, sagt der Innenminister. Bislang wissen die Ermittler offenbar wenig darüber. Ganz allgemein wird vermutet, dass Marokkaner mit Albanern konkurrieren und dass neuerdings auch französische Gangs mitmischen, die Marseille zu einer Hauptstadt der Drogen gemacht haben.

Von der Polizei geschnappt zu werden, ist für viele junge Männer keine Abschreckung mehr. Die Justizbehörden sind derart überlastet, dass Kleinkriminelle häufig ihre Strafen gar nicht antreten müssen oder nach kurzer Zeit wieder aus der Haft entlassen werden. Das fördert ein Gefühl von Straflosigkeit. In einer dechiffrierten Kommunikation von internationalen Drogenbossen fand sich in einem Zitat die Erklärung, warum Belgien sich wie kein anderes Land für ihr Geschäft eignet: „Belgien ist bequem.“

Ein großes Rätsel ist, warum so viele Kalaschnikows in Brüssel auf dem Markt sind. Es gilt als Versäumnis der belgischen Ermittler, dass sie zu selten die Wege sichergestellter Waffen zurückverfolgt haben. Das rächt sich nun, vor allem angesichts eines weiteren Trends im Drogengeschäft: Immer mehr Minderjährige werden angeheuert, um im Bandenkrieg offene Rechnungen zu begleichen. Dass Kalaschnikows zunehmend in die Hände von Teenagern geraten, die keinerlei Erfahrung mit Waffen haben – das macht die belgische Polizei wirklich nervös.

Als Begleitgeräusche zum Krisentreffen, das der Innenminister für Montag anberaumt hatte, waren am frühen Montagmorgen wieder Gewehrschüsse in Anderlecht zu hören. Verletzt wurde offenbar niemand.

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