Süddeutsche Zeitung

Belgien:Die Brüder El Bakraoui - so schlampten die Behörden

Zwei der Brüsseler Attentäter hätten eigentlich im Gefängnis sitzen müssen. Auch die Warnungen der Türkei wurden in Belgien überhört.

Von Thomas Kirchner und Alexander Mühlauer, Brüssel

Ibrahim El Bakraoui hat sich am Brüsseler Flughafen in die Luft gesprengt, sein Bruder Khalid in der Metro-Station Maelbeek. Die Geschichte der beiden: eine Revue der verpassten Gelegenheiten. Gründlichere Arbeit von Justiz und Polizei hätte vielleicht manches verhindert.

Am 30. Januar 2010 überfällt Ibrahim eine Wechselstube in Brüssel. Die Sache geht schief, bei der Verfolgung schießt er einen Polizisten mit seiner Kalaschnikow nieder. Acht Monate später verurteilt man ihn zu neun Jahren Haft, die später auf zehn steigen, weil er Berufung einlegt. Nach vier Jahren und neun Monaten wird er wegen guter Führung mit Auflagen freigelassen, offenbar gegen den Rat der Gefängnisleitung in Ittre.

Zwischen Oktober 2014 und Mai 2015 bleibt er brav. Er reist nicht für längere Zeit ins Ausland, meldet sich pünktlich beim Bewährungshelfer, meidet seine alten Kumpels, sucht Arbeit, überweist jeden Monat 25 Euro Schmerzensgeld an den verletzten Polizisten.

Dann plötzlich ist er weg. Im Juni nimmt ihn die türkische Polizei in Gaziantep an der Grenze zu Syrien fest. Sie hält ihn für einen Dschihadisten. Am 14. Juli setzt sie ihn zusammen mit einem anderen Verdächtigen in ein Flugzeug nach Amsterdam, das sie als Wunschziel angegeben haben. Erst am Morgen dieses Tages warnt die Türkei Belgien und die Niederlande vor den beiden mit einer Nachricht an ein Internet-Portal der Botschaften in Ankara. Die Information erreicht den Polizei-Verbindungsmann in der belgischen Botschaft aber spät. Und er reagiert auch nicht sofort.

Ibrahim kann untertauchen. Obwohl er jetzt als höchst verdächtig gelten müsste, kümmert sich noch immer niemand um ihn, niemand schlägt Alarm. Stattdessen schickt die belgische Polizei einige Tage später eine Liste mit den bisherigen Straftaten Bakraouis an die Türkei. Erst Ende August 2015 wird seine Bewährung aufgehoben, weil er gegen die Auflagen verstoßen hat. Um diese Zeit herum hat die Türkei ihn nach eigenen Angaben erneut aufgegriffen und abgeschoben. Nun wird er landesweit gesucht. Im Dezember überweist er sogar noch einmal das Schmerzensgeld.

Auch Ibrahims jüngerer Bruder Khalid hat die fünf Jahre Haft, die er 2011 wegen Autodiebstahls erhielt, nicht abgesessen, er kommt gegen Auflagen vorzeitig frei. Einmal wird er mit einem früheren Komplizen im Auto erwischt. Weil er sich an alle andere Auflagen gehalten hat, bleibt er frei. Im Oktober 2015 taucht er ab.

Es war eine peinliche Nachricht aus Ankara, die all diese Versäumnisse der belgischen Behörden bekannt machte. Am vergangenen Mittwoch, kurz vor 18 Uhr, teilte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan mit, sein Land habe einen der Attentäter ausgewiesen und Belgien vergeblich gewarnt. In Brüssel herrschte erst einmal Schweigen. Premierminister Charles Michel bat Innenminister Jan Jambon und Justizminister Koen Geens um Aufklärung. Die beiden waren genauso überrascht wie der Premier. Sie hatten keine Ahnung. Und Belgien hatte zur Terror- auch noch eine Regierungskrise.

Gegen 22 Uhr rief Jambon Premier Michel an: "Charles, ich muss dich sehen." Der Innenminister fuhr zum Lambermont, der Residenz des Premierministers in der Nähe des Königspalasts. Erst erklärte Jambon die Lage und dass man sich Fragen stellen könne über die Arbeit der Justiz und der Polizei. Die Dinge seien nicht optimal gelaufen. Dann sagte er: "Ich übernehme die politische Verantwortung, obwohl ich keinen Fehler begangen habe." Michel bat um Bedenkzeit, er wolle erst Justizminister Koen Geens sehen. Auch dieser stellte sein Amt zur Verfügung.

Es war Mitternacht, als sich alle drei im Lambermont trafen. Michel hatte sich entschieden: Er wollte die Sache beruhigen und bat beide Minister, im Amt zu bleiben. Während der Nacht sprach der Premier mit seinen anderen drei Stellvertretern (Jambon ist auch einer von ihnen) und fragte, ob sie einverstanden sind. Sie waren es, alle bekannten sich zur Koalition. Eine neue Regierung zu bilden ist kompliziert in Belgien, das wollte niemand riskieren.

Innenminister Jambon sagte am Donnerstag nach der Kabinettssitzung: "Es ist Krieg. Da verlässt man nicht das Gebiet. Ich bleibe." Auch Justizminister Geens blieb im Amt. Nun soll eine Kommission des Parlaments das Versagen der Regierung, der Justiz und der Polizei untersuchen. So wie vor 20 Jahren, als der Kindermörder Marc Dutroux durch alle Maschen der Justiz geschlüpft war und man über Mitwisser ganz weit oben spekulierte.

Jetzt soll ein Ausschuss aufklären, was schiefgelaufen ist. Es gibt viel zu tun

Es gibt viel zu erklären. Etwa jene Geschichte des Polizisten aus Mechelen. Der erfuhr offenbar schon im Dezember, als Salah Abdeslam wegen der Pariser Attentate gesucht wurde, den Namen und den Wohnort von Abid Aberkan, bei dessen Mutter sich Abdeslam später im Keller versteckte. Adresse: Rue des Quatre Vents 79, Molenbeek. Leider gaben seine Vorgesetzten die Nachricht nicht nach Brüssel weiter.

Oder die möglicherweise verunglückte Vernehmung von Salah Abdeslam. Er wurde am Tag nach seiner Festnahme zwar mehrmals zu seiner Rolle bei den Pariser Anschlägen befragt. Wohl aber nicht zu neuen Attentatsplänen, vor denen Belgiens Außenminister am selben Tag ausdrücklich warnte. Seltsam ist auch, dass Abdeslams Aussageprotokoll umgehend an die Medien gelangte. Er stellt sich darin als kleines Rädchen dar, der Böse soll offenbar sein Bruder sein, der sich in Paris in die Luft gejagt hatte. Die Aussagen sind gespickt mit Unwahrheiten. Belgische Medien mutmaßen unter Berufung auf Sicherheitskreise, dass Abdeslam und andere ursprünglich in Brüssel auf dieselbe Weise zuschlagen wollten wie in Paris - mit Schießereien auf öffentlichen Plätzen.

Mittlerweile will er nichts mehr sagen.

Ebenfalls im Visier waren offenbar Atomkraftwerke. Die Brüder Bakraoui beobachteten die Wohnung eines Leiters der belgischen Atombehörde mit einer Videokamera. Laut Experten hätte das Material der Terroristen aber nicht gereicht, einen Meiler ernsthaft zu beschädigen.

Während der Terroralarm in Brüssel von Stufe vier auf drei gesenkt wurde, versuchen die Ermittler das Terrornetzwerk hinter den Pariser und Brüsseler Anschlägen mit immer neuen Aktionen zu zerstören. Am Donnerstagabend nahm die Polizei sechs Männer fest, am Freitag drei weitere. In Schaerbeek waren bei Hausdurchsuchungen zwei Explosionen zu hören, ein Mann mit Sprengstoff wurde angeschossen und gefasst. Die Identität des zweiten Flughafen-Attentäters hat die Staatsanwaltschaft inzwischen bestätigt, es handelt es sich um Najim Laachraoui. Der dritte Mann ist flüchtig. Die Polizei sucht nach einem weiteren Verdächtigen, dem Syrer Naim al-Hamed.

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SZ vom 26.03.2016/mikö
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