Belgien:Brüssel kämpft mit den Spätfolgen des Terrors

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Soldaten auf den Straßen wie auf diesem Archivbild zählen auch noch ein Jahr nach den Anschlägen in Brüssel zum Alltag. (Foto: AP)
  • In Brüssel sind die Auswirkungen der Terroranschläge des vergangenen Jahres noch immer zu spüren.
  • Soldaten sind weiterhin in der Metro und auf öffentlichen Plätzen präsent.
  • Viele Opfer warten nach wie vor auf eine Entschädigung.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Eddy Van Calster und Fabienne Van Steenkiste waren ein glückliches Paar. Sie hatten sich schon als Kinder im Kongo kennengelernt, arbeiteten und lebten eng zusammen. Als seine Frau am 22. März 2016 durch eine der Bomben am Brüsseler Flughafen zerfetzt wurde, kam Van Calster die Hälfte seiner Existenz abhanden. "Fabienne stand mir so nah, dass ihre Abwesenheit fast nicht zu ertragen war", sagt er. "Allein aufstehen, allein einschlafen, nicht mehr zusammen ins Restaurant gehen. All die kleinen täglichen Dinge. Man lernt nicht, damit zu leben."

Van Calsters Schicksal, aufgezeichnet von der Zeitung Le Soir, ähnelt vielen anderen Geschichten, die in diesen Tagen in Belgien erzählt werden. Ein Jahr nach den Anschlägen, die 32 Menschen töteten und mehr als 300 Personen verletzten, viele schwer, sind Schmerz und Trauer nicht verflogen. Das gilt zunächst für Opfer und Angehörige. Ihr Leben ist aus der Bahn geraten, zum großen Teil warten sie noch auf eine finanzielle Entschädigung. Der letzte Verletzte verließ erst vor ein paar Wochen das Krankenhaus.

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Aber auch die Stadt hat sich verändert. Noch immer patrouillieren Soldaten in der Metro, vor Gebäuden und auf öffentlichen Plätzen; bei größeren Veranstaltungen und vor Einkaufszentren werden Taschen kontrolliert und Körper abgetastet. Natürlich fahren die Leute längst wieder U-Bahn, die Zahl der Passagiere ging 2016 nur minimal zurück. Doch es braucht nur ein Geräusch, ein überraschendes Gebrüll an einer Haltestelle, und alle zucken zusammen. Kaum jemand kann sich eines mulmigen Gefühls erwehren bei der Fahrt durch die Station Maelbeek, in der sich ein Attentäter in die Luft jagte. "Man denkt nicht die ganze Zeit daran", sagt Pierre-Henri Wouters, Direktor der beliebten Musikhalle Botanique. "Aber es bleibt immer etwas von der Bedrohung, als könnte sich der Himmel schlagartig verdüstern."

Die Brüsseler Attentate, an einem strahlend schönen Frühlingsmorgen zu Beginn der Osterferien, kamen überraschend - und auch nicht. Wenige Tage zuvor war im Stadtteil Molenbeek Salah Abdeslam festgenommen worden, ein Komplize der Mörder von Paris. Als deren enge Verbindungen nach Belgien im November 2015 bekannt wurden, war das öffentliche Leben in Brüssel tagelang zum Erliegen gekommen. Und schon lange vorher hatte Belgien als eines der am stärksten vom islamistischen Terror bedrohten Länder der EU gegolten. Schließlich zogen aus keinem anderen westeuropäischen Staat mehr Jugendliche in den Dschihad nach Syrien.

Vom failed state war dann schnell die Rede, vom Kompetenz-Chaos und flämisch-wallonischen Zerwürfnissen, die eine effektive Verfolgung der Extremisten verhinderten, von einer Strategie des gezielten Wegsehens und einer Scheiß-egal-Mentalität. Die Politik reagierte, indem sie neben den Kontrollen auch Gesetze verschärfte. Terrorverdächtige können nun leichter in Haft gehalten werden, Touristen des Terrors und welche, die dazu anstiften, können leichter bestraft werden. Behörden und inzwischen auch Bahn- und Busunternehmen wurden angewiesen, fleißig Daten über die Bürger zu sammeln.

In Molenbeek, das besonders viele Islamisten beherbergt, versprach Innenminister Jan Jambon "aufzuräumen". Der konservative flämische Nationalist heckte einen "Kanalplan" aus: In neun Problemgemeinden entlang des trüben Gewässers, das durch Brüssel schleicht, sollten 300 zusätzliche Polizisten für mehr Sicherheit sorgen. Erst einmal mussten sie herausfinden, mit wem sie es zu tun hatten. 8600 Wohnungen wurden allein in Molenbeek durchsucht, betroffen war ein Viertel der Einwohner. 1600 Vereine wurden kontrolliert, in 51 Fällen hat man Verbindungen zu Radikalen oder Terroristen entdeckt. 300 Untersuchungen laufen noch.

Diese Überprüfungen seien dringend nötig, sagte Jambon der Zeitung De Morgen, warnte aber vor zu hohen Erwartungen. "Innerhalb eines Jahres löst man keine Probleme, die auf einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung beruhen." Warum sich noch immer derart viele junge Nachkommen von Einwanderern in Brüssel vom gewalttätigen Islamismus faszinieren lassen, weiß niemand genau. "Auf die Schnelle lassen sich solche Fragen nicht beantworten", zitiert Le Soir den Soziologen Stéphane Beaud. Das werde "vielleicht drei Jahre oder mehr dauern". Eine gewichtige Rolle spielt sicher die weiter düstere wirtschaftliche Lage in Molenbeek. Die Arbeitslosigkeit ist enorm hoch, jeder vierte Anwohner lebt von staatlicher Hilfe. "Die kritische Masse, die einem radikalen Diskurs anhängt, ist gewachsen", sagte der Molenbeeker Beamte Olivier Vanderhagen De Morgen. "Der Kanalplan hat diesen Nährboden nicht weggenommen."

Ein weiterer Faktor sind radikale religiöse Einrichtungen. Vor allem die Große Moschee, nur einen Steinwurf von den europäischen Institutionen entfernt, ist ins Visier der Ermittler geraten. In dem Gebetshaus, das von Saudi-Arabien finanziert wird, sollen ein strenger Wahabismus und radikales Gedankengut gepredigt werden. Vertreter der Moschee bestreiten das zwar, doch wird inzwischen erwogen, die Justiz einzuschalten.

200 Meter entfernt wird an diesem Mittwoch ein Denkmal für die Anschläge enthüllt. Der König und seine Frau werden zudem nach Maelbeek fahren, wo für neun Uhr elf eine Schweigeminute geplant ist. An der Oberfläche sollen Bus- und Tramfahrer hupen. Als Hommage an die Opfer.

© SZ vom 21.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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