Die Stadt Brüssel steckt in einer existenzbedrohenden Krise. Um das zu verstehen, genügen ein paar Zahlen. Im Jahr 2024 häufte die belgische Hauptstadt bei einem Budget von 7,6 Milliarden Euro zusätzliche Schulden in Höhe von 1,4 Milliarden Euro an. Der Schuldenstand beläuft sich auf insgesamt rund 15 Milliarden Euro und wird, wenn es so weitergeht, in den kommenden vier Jahren die 20 Milliarden weit übersteigen. Und noch eine Zahl: 373 Tage sind, Stand Montag, seit den Neuwahlen des Brüsseler Regionalparlaments vergangen. Aber noch immer gibt es keine neue Regierung, die etwas gegen die Schuldenkrise unternehmen könnte.
Am Freitagabend hat die Ratingagentur S&P ihr Urteil über Brüssel gefällt. Sie stufte die Kreditwürdigkeit der belgischen Hauptstadt von A+ auf A herab, verbunden mit einer „negativen Perspektive“. Das bedeutet, dass die Stadt mit einer noch höheren Zinslast rechnen muss. Immer realistischer erscheint nun die Möglichkeit, dass Brüssel bald die Hilfe der nationalen Regierung beantragen muss und unter deren Aufsicht gestellt wird. Aber auch das ist keine beruhigende Aussicht.
Regierungskoalitionen sind häufig zersplittert
Denn ebenfalls am Freitagabend stufte die Ratingagentur Fitch die Kreditwürdigkeit des belgischen Staates herab, von AA- auf A+. Begründung: Gesamtschulden von mehr als 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, eine jährliche Neuverschuldung von mehr als vier Prozent – und keine Aussicht auf Besserung.
Ganz Belgien zahlt nun den Preis für seinen extremen Föderalismus. Die drei Regionen – Brüssel, Flandern, Wallonien – genießen hohe Eigenständigkeit. Eigene Parlamente und weitgehende Kompetenzen in kulturellen Fragen haben auch die drei Sprachgemeinschaften, flämisch, französisch, deutsch. Eine nationale Parteienlandschaft existiert in Belgien nicht, die meisten Parteien gibt es in einer flämischen und einer französischsprachigen Version. Das führt sowohl in der Region Brüssel als auch auf nationaler Ebene immer wieder zu zersplitterten Regierungskoalitionen. Einigkeit gibt es meistens nur, wenn es um das Ausgeben von noch mehr Geld geht.
Die Sanierung des Staates Belgien hat sich die neue Regierung unter dem konservativen Ministerpräsidenten Bart De Wever vorgenommen. Seine Koalition beschloss deshalb eine erhebliche Kürzung von Sozialleistungen, steht aber vier Monate nach Amtsantritt schon unter Druck. Die Gewerkschaften machen gegen das Sparprogramm mobil. Außerdem will De Wever die Verteidigungsausgaben massiv erhöhen, um den Nato-Verpflichtungen nachzukommen. Das weckt Widerstand in der eigenen Koalition.
Einen Akt „kollektiver Hysterie“ nennt der liberale Parteichef Georges-Louis Bouchez den Plan der Nato, alle Mitgliedsländer sollten die Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöhen. Bouchez, wichtigster Partner des Regierungschefs, stellt sogar das bestehende Drei-Prozent-Ziel infrage. Notfalls, so fordert Bouchez, solle De Wever beim Nato-Gipfel kommende Woche in Den Haag ganz allein Donald Trump die Stirn bieten und dem US-Präsidenten sagen: Belgien hat nicht genug Geld, um die Nato-Ziele erreichen zu können.
Der Streit um die Verteidigungsausgaben stürzt das Bündnis in seine erste große Krise
Das Bündnis zwischen dem Flamen De Wever und dem Wallonen Bouchez gilt in Belgien vielen als einmalige Chance, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bekommen. Sie vertreten die beiden stärksten Parteien in ihren jeweiligen Regionen, ihre Programmatik ist vor allem in Wirtschaftsfragen ähnlich, und auch die drei restlichen Parteien der Koalition entstammen eher der Mitte des politischen Spektrums. Die Frage der Verteidigungsausgaben scheint das Bündnis aber nun in seine erste große Krise zu führen.
Die politische Lähmung im Brüsseler Regionalparlament ist für Menschen, die sich nicht regelmäßig mit belgischer Politik befassen, kaum zu verstehen. Sie hat auch mit dem überaus komplizierten Wahlrecht zu tun. Parteien für flämisch- und für französischsprachige Wähler stehen auf getrennten Wahlzetteln. Hinterher finden genau genommen drei „Koalitionsverhandlungen“ statt: Es muss sich im Parlament zunächst eine flämischsprachige und eine französischsprachige Mehrheit bilden. Diese beiden Mehrheiten müssen sich dann über ein gemeinsames Regierungsprogramm verständigen.
Der zweite wesentliche Grund für die Blockade ist, grob vereinfacht ausgedrückt, der verletzte Stolz der seit vielen Jahren in Brüssel regierenden Sozialisten. Sie haben bei den Wahlen im Juni 2024 ihre führende Stellung eingebüßt, sind aber weit davon entfernt, Verantwortung für das Finanzdebakel in der Stadt zu übernehmen. Vielmehr blockieren sie eine Regierungsbildung unter Führung der Liberalen, der neuen Nummer eins. Und als besonderes Feindbild pflegen sie Bart De Wever, obwohl dessen Partei lediglich zwei Abgeordnete im Brüsseler Parlament stellt.
De Wever, vor Jahren bekannt als provokanter flämischer Nationalist, verfolge nun als belgischer Ministerpräsident mit seiner Partei einen besonders infamen Plan, um den belgischen Staat zu zerstören und Flandern in die Unabhängigkeit zu führen. So ist das von den Sozialisten immer wieder zu hören. Auf die schlechten Nachrichten von den Ratingagenturen erklärte der Chef der Sozialisten: De Wever sei schuld.