Beleidigungen:Kritik im weitesten Sinne

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Rassistische Angriffe auf sie wurden vor Gericht nicht als strafbare Beleidigung gewertet: die Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli. (Foto: Wolfgang Kumm/dpa)

Warum die Berliner SPD-Politikerin Sawsan Chebli mit ihrer Klage vor Gericht scheiterte.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Neulich war es Renate Künast, jetzt ist es Sawsan Chebli, und wieder ist es dieselbe Frage: Was müssen sich Politikerinnen und Politiker gefallen lassen? Wo endet die Meinungsfreiheit? Und wo beginnt die Strafbarkeit? Der Freispruch des Amtsgerichts Tiergarten zugunsten des Youtubers Tim K., der die SPD-Staatssekretärin aus Berlin unter anderem eine "islamische Sprechpuppe" nannte, zeigt, wie schwer sich die Gerichte mit der erzliberalen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts tun.

Richtet man den Blick auf einzelne Äußerungen, mit denen Tim K. die Politikerin auf seinem Youtube-Kanal überzogen hatte, könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, es gehe wirklich nur um polemische, aber letztlich inhaltliche Kritik - teils grenzwertig, aber in der öffentlichen Arena muss man sich halt warm anziehen. Dass Chebli dort als "Quotenmigrantin der SPD" bezeichnet wurde, dürfte aus Karlsruher Perspektive zulässig sein. Danach muss Kritik eben nicht sachlich und differenziert daherkommen, sondern kann auch zugespitzt sein. Und "Quotenmigrantin der SPD" lässt sich als Behauptung deuten, Chebli sei nicht durch eigene Leistung aufgestiegen, sondern dank einer Quote. Das könne man als "unverschämt und falsch" bezeichnen, hat der Richter einer Sprecherin zufolge bei der Urteilsverkündung gesagt. Es sei aber keine strafbare Beleidigung.

In der öffentlichen Debatte lässt Karlsruhe der freien Rede meist den Vortritt

Komplizierter wird es bei der "islamischen Sprechpuppe". Tim K. will damit angeblich gemeint haben, dass Chebli häufig Tweets anderer SPD-Politiker retweete. Das könnte immerhin die "Sprechpuppe" erklären - wobei es dann wohl "SPD-Sprechpuppe" heißen müsste. Das Amtsgericht hat das für gerade noch zulässig gehalten. Tatsächlich lässt Karlsruhe auch harte Angriffe durchgehen. Dass eine verbale Attacke als sogenannte "Schmähkritik" eingestuft wird und damit ohne weitere Abwägung dem Schutz der Meinungsfreiheit entzogen ist, kommt äußerst selten vor - und im öffentlichen Streit fast gar nicht. Selbst dass einst ausgerechnet ein Vertreter der rechtsextremen Gruppe Pro NRW den Grünen-Abgeordneten Volker Beck bezichtigte, sich "als Obergauleiter der SA-Horden" aufzuspielen, war laut Verfassungsgericht keine Schmähkritik. Gleiches galt für den Hamburger Sozialdemokraten Michael Naumann, der einen Juristen einen "durchgeknallten Staatsanwalt" nannte. Und für einen Stadtrat, der einen Zwischenrufer als "Dummschwätzer" bezeichnete. In keinem der Fälle, so befand Karlsruhe, gehe es ausschließlich um persönliche Diffamierung. Bei Volker Beck war es die heftige Replik auf dessen eigene verbale Attacken gegen Pro NRW ("braune Truppe", "rechtsextreme Idioten"), Naumann hatte die Öffentlichkeitsarbeit eines Generalstaatsanwalts kritisiert. Und "Dummschwätzer" könne eben auch bedeuten, dass jemand eine "dumme Aussage" gemacht habe.

In Fällen wie diesen ist der Weg zum Strafrecht zwar nicht ganz versperrt. Auch ohne "Schmähkritik" kann die Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht so ausfallen, dass doch noch eine Beleidigung herauskommt. Aber gerade in der öffentlichen Debatte gewährt Karlsruhe der freien Rede meist den Vortritt: Es darf auch mit harten Bandagen gekämpft werden.

Womit man wieder beim Amtsgericht Tiergarten wäre. Denn auch wenn man die "islamische Sprechpuppe" - isoliert betrachtet - gerade noch diesem hart geführten Diskurs zurechnen möchte, muss man laut Verfassungsgericht auch den Kontext hinzunehmen. Und der zeigt sich in folgender Äußerung von Tim K.: "Hat Ihr Vater aus Trieb, religiöser Überzeugung oder wirtschaftlicher Berechnung im Lager zwölf Kinder gezeugt?" Klar, was der Youtuber damit sagen will. Sawsan Chebli, wenngleich in Berlin geboren, gehört als Tochter palästinensischer Flüchtlinge einer Gruppe an, die Tim K. offenkundig als minderwertig ansieht. Damit wird aus der vermeintlichen "Kritik" ein rassistischer Angriff auf eine kämpferische Antirassistin - womit sich erklärt, warum er die Sprechpuppe "islamisch" nannte. In der Summe könnte die Bemerkung also auch nach der Karlsruher Rechtsprechung als Beleidigung gewertet werden. Sawsan Chebli und die Staatsanwaltschaft wollen Rechtsmittel einlegen.

© SZ vom 29.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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