Belarus:Wo ist Maria Kolesnikowa?

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Die Oppositionelle ist offenbar entführt worden. Sie ist nicht das einzige Mitglied des Koordinierungsrates, gegen das Minsk vorgeht. Das Gremium strebt eine friedliche Machtübergabe an und wird deshalb bekämpft.

Von Silke Bigalke, Moskau

Maria Kolesnikowa war die einzige Oppositionsführerin, die noch in Belarus in Freiheit war. Jetzt ist sie verschwunden. (Foto: imago images/ITAR-TASS)

Die belarussische Oppositionsführerin Maria Kolesnikowa ist am Montag offenbar festgenommen worden. Wobei man kaum von Festnahme reden kann, wenn man zusammenfasst, was bis zum Nachmittag bekannt wurde: Eine Augenzeugin berichtete, wie maskierte Männer in Zivil die 38-Jährige in einen Bus zerrten. Ihre Mitstreiter konnten sie danach nicht erreichen und auch nicht feststellen, wo sich die Verschwundene befindet. Die belarussischen Sicherheitsbehörden wollen nichts mit der Sache zu tun haben: Man habe keine Informationen über die mutmaßlichen Festnahmen, zitierte die russische Nachrichtenagentur Interfax eine Vertreterin des Innenministeriums.

"Im Moment gibt es keine Informationen darüber, wo Maria ist. Die Juristen suchen nach ihr", sagt Kolesnikowas Sprecher Gleb Germantschuk am Telefon. Sie ist nicht das einzige Mitglied des oppositionellen Koordinierungsrates, das verschwunden ist. Auch von Anton Rodnenkow, dem Sprecher des Rates, und von Iwan Krawzow, dem Ratssekretär, fehlte am Montag jede Spur. Mit dem Koordinierungsrat, in dessen Präsidium Maria Kolesnikowa sitzt, möchte die Opposition eine friedliche Machtübergabe erreichen. Die Wahl vom 9. August, bei der Machthaber Alexander Lukaschenko mehr als 80 Prozent der Stimmen geholt haben will, war offenkundig manipuliert.

Zehntausende protestierten erneut gegen Staatschef Lukaschenko, es gab mehr als 600 Festnahmen

Seither haben mehrere Oppositionelle Belarus unter Druck verlassen müssen. Swetlana Tichanowskaja, die viele für die wahre Wahlsiegerin halten, meldete sich aus ihrem Exil in Vilnius: "Das Regime übt Terror aus, es gibt keinen anderen Namen dafür", sagte sie. "Die Entführung von Maria Kolesnikowa, Anton Rodnenkow und Iwan Krawtsow ist ein Versuch, die Arbeit des Koordinierungsrates zu stören." Sie würden sich davon nicht aufhalten lassen. "Je mehr sie einschüchtern, desto mehr Menschen werden auf die Straße gehen." Die nun wohl festgenommene Maria Kolesnikowa hatte Tichanowskaja im Wahlkampf unterstützt. Sie war die einzige führende Oppositionelle aus dem Wahlkampf, die nach der Abstimmung immer noch in Belarus und in Freiheit war.

Der belarussischen Nachrichtenseite tut.by hatte eine Augenzeugin von Kolesnikowas Festnahme berichtet: Sie habe die Oppositionelle gegen zehn Uhr morgens in der Nähe des nationalen Kunstmuseums gesehen. Sie habe überlegt, ob sie Kolesnikowa ansprechen solle, dann aber entschieden, ihr nur aus der Ferne ein Herz mit den Händen zu formen - Kolesnikowas Erkennungszeichen. "Nicht weit vom Museum sah ich einen geparkten dunklen Kleinbus", sagt die Augenzeugin. Sie sei weiter vor gegangen und habe plötzlich ein Geräusch gehört, "wie ein Telefon, das auf den Asphalt fiel, Trampeln, ich drehte mich um und sah, dass Leute in Zivil und mit Masken Maria in diesen Kleinbus hineinstoßen, dass ihr Telefon runterfällt." Einer der Maskierten habe das Telefon aufgehoben, sei mit in den Bus gestiegen und weggefahren.

Seit dem Wahltag gibt es fast täglich Demonstrationen. Am Sonntag gingen in Minsk und anderen Städten erneut Zehntausende gegen Machthaber Lukaschenko auf die Straße. Während die Proteststimmung nicht abebbt, erhöht er den Druck auf Opposition und Demonstrierende. Allein am Sonntag wurden den Behörden zufolge 633 Menschen festgenommen.

Gegen den oppositionellen Koordinierungsrat laufen längst Ermittlungen. Dessen leitende Mitglieder mussten zu Befragungen vor dem Untersuchungsausschuss erscheinen - auch die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch. Olga Kowalkowa, Mitglied des Rates und Tichanowskaja-Vertraute, wurde bereits vor wenigen Tagen zur Ausreise nach Polen gezwungen. Sie war vor drei Wochen festgenommen und ihrer Aussage zufolge vor die Wahl gestellt worden: Exil oder Gefängnis. Auf der Internetseite des Rates beschreibt sie, wie der Geheimdienst sie an die polnische Grenze gebracht habe. Auch Pawel Latuschko, früher Kulturminister und Diplomat, hat das Land zumindest vorübergehend verlassen und Warschau und Vilnius besucht. Lukaschenko hatte ihm zuvor offen gedroht.

Die Europäische Union zeigte sich zutiefst besorgt. "Was wir in Belarus erleben, ist die fortgesetzte Repression der Behörden gegen die Zivilbevölkerung, gegen friedliche Demonstranten, politische Aktivisten, Menschen, die ihre Meinung äußern und ihre Stimme hören wollen", sagte ein Sprecher des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell.

© SZ vom 08.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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