Das Foto braucht sie nun nicht mehr. Swetlana Tichanowskaja hatte es bisher immer dabei, ein Porträt, schwarz-weiß und so groß, dass es die Vorderseite ihrer Mappe ausfüllt. Es zeigt ihren Mann Sergej Tichanowski, im dunklen Pulli, mit gestutztem Vollbart, er lächelt freundlich. Tichanowski saß im Gefängnis, aber so reiste er als Foto mit seiner Ehefrau, der belarussischen Oppositionsführerin, durch die Welt, in die USA, in Europas Hauptstädte, Berlin, Brüssel, Warschau.
Das Foto gab Swetlana Tichanowskaja Trost. Und es zeigte, dass sie natürlich auch für ihren Mann kämpfte, wenn sie sich für ein freies, demokratisches Belarus einsetzte. Jetzt hat sie ihn wieder.
Nach fünf Jahren in der Haft des belarussischen Regimes kam Sergej Tichanowski am Samstag frei. Ein kurzes Video zeigt, wie er aus einem weißen Kleinbus steigt, seiner Frau in die Arme fällt und sie lange drückt. Sein Gesicht ist in der langen Haft schmaler geworden, der Vollbart ist weg, das Haar jetzt ein Millimeterschnitt. Sie sind nun zusammen in der litauischen Hauptstadt Vilnius, von dort aus führt Tichanowskaja die belarussische Exilopposition an. In Belarus selbst gibt es längst keine Opposition mehr, allenfalls eingesperrt.
Seine Ehefrau war eingesprungen als Symbolfigur der Opposition
Im Sommer 2020 wollte der regierungskritische Blogger Sergej Tichanowski bei der Präsidentschaftswahl gegen den Diktator Alexander Lukaschenko antreten. Vor allem bei den Arbeitern in den belarussischen Regionen kam er an mit seinen Youtube-Videos und seinen klaren Aussagen. In seinem Kanal „Land zum Leben“ kritisierte er das Regime und warb für demokratische Veränderungen.
Noch zu Beginn der Wahlkampagne, am 29. Mai, nahmen Sicherheitsbeamte Tichanowski bei einem Auftritt in Grodno fest. Er wurde später zu 18 Jahren Haft verurteilt. Für ihn sprang seine Frau Swetlana Tichanowskaja ein. Zehntausende Menschen kamen damals vor der Abstimmung im August zu ihren Auftritten. Sie wäre wohl Präsidentin von Belarus geworden, ohne die Wahlfälschungen des Regimes. Am Tag nach der Wahl wurde sie von belarussischen Geheimdienstleuten erpresst. Sie stellten sie vor die Wahl: Ausreise oder Haft. Swetlana Tichanowskaja verließ das Land.
„Ich kann es nicht glauben“, schrieb sie am Samstag zur Freilassung ihres Mannes auf X. „Sergej ist hier, mit mir und unseren Kindern.“ Fünf Jahre lang hätten sie davon geträumt. Tichanowskaja hatte der SZ im vergangenen Herbst gesagt, dass seit März 2023 kein Anwalt mehr bei ihrem Mann gewesen sei. Nichts wisse sie über seinen Gesundheitszustand. „Das ist schwer zu ertragen“, sagte sie damals, „man will die Menschen brechen“.
Am Sonntagmittag nun gab das Ehepaar erstmals zusammen eine Pressekonferenz. Swetlana Tichanowskaja hielt noch immer die Mappe mit dem alten Foto ihres Mannes im Arm, aber jetzt stand er direkt neben ihr. Tichanowskaja bedankte sich bei der US-Regierung, der Solidarität der Europäer. Und sie kündigte an, „den Kampf für unser Land und für die Freilassung der übrigen politischen Gefangenen“ fortzusetzen. Sergej Tichanowski rief in Anspielung auf den Diktator Lukaschenko dazu auf, „den Lukaschismus“ zu bekämpfen. Er sagte: „Belarus ist heute die Herrschaft der Lüge.“
Tichanowskajas wichtigster Berater Franak Viačorka sagte, dass die Gespräche über eine Freilassung politischer Gefangener schon lange gelaufen seien, aber bis zum letzten Moment nicht klar gewesen sei, wer aus belarussischer Haft freikommen würde, und wann überhaupt.
Noch immer mehr als 1100 politische Gefangene, manche in Isolationshaft
Nach Angaben der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna (Frühling) von Sonntag gibt es derzeit 1177 politische Gefangene. Dazu gehören der Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazkij und Maria Kolesnikowa, die wie Swetlana Tichanowskaja die Oppositionsbewegung in Belarus geprägt hat. Viačorka hatte gehofft, dass beide zusammen mit Tichanowski ebenfalls freigelassen würden. Angehörige und Freunde von Kolesnikowa machen sich große Sorgen um die Gefangene. Sie ist immer wieder in Isolationshaft und soll im Gefängnis stark abgenommen haben.
Lukaschenkos Sprecherin Natalja Ejsmont schrieb auf Telegram, dass Tichanowski ausschließlich „aus humanitären Gründen“ freigelassen worden sei, mit dem Ziel, die Familie zusammenzuführen. Es sei dies eine Bitte des US-Präsidenten gewesen. Außer Tichanowski kamen am Wochenende 13 weitere politische Gefangene in Belarus frei, offiziell begnadigt von Machthaber Lukaschenko. Unter ihnen sind nach Angaben der Sprecherin auch ausländische Staatsbürger aus Polen, Japan, Estland, Schweden und den USA.
Lukaschenko ist unter Druck, die Wirtschaft leidet
Doch so ausschließlich humanitär, wie die Führung in Minsk es formulierte, war die Freilassung vermutlich nicht. Zuvor hatte Lukaschenko am Wochenende den US-Sondergesandten Keith Kellogg als Gast empfangen. Es war der höchstrangige Besuch aus den USA in Belarus seit vielen Jahren. Kellogg ist als Vertreter der Trump-Regierung für die Ukraine zuständig. Im russischen Angriffskrieg steht Lukaschenko wiederum fest an der Seite Russlands, versucht sich zugleich jedoch immer wieder als eine Art Vermittler ins Spiel zu bringen.
Auch Belarus leidet unter Sanktionen der Europäischen Union – und der USA. Unklar ist zunächst, ob Washington die Freilassung von Tichanowski und den anderen Gefangenen ausreicht, damit es seine Sanktionen lockert. Lukaschenko dürfte sich jedenfalls etwas mehr Spielraum erhoffen; die belarussische Wirtschaft und damit auch Lukaschenko selbst sind zuletzt unter Druck geraten. Die Lebensmittelpreise sind gestiegen, der Handel mit der EU ist deutlich gesunken. Belarus ist nun noch abhängiger von Russland, das wirtschaftlich selbst von Sanktionen betroffen ist.
Diese Abhängigkeit zwischen den Ländern hat auch Sergej Tichanowski am Sonntag versucht zu erklären. „Eine Befreiung von Belarus wird nicht gelingen“, sagt er auf der Pressekonferenz, solange Wladimir Putin in Russland an der Macht sei.