Süddeutsche Zeitung

Oppositionelle Tichanowskaja:Keine Angst vor den Mächtigen

Im Zuge der Massenproteste gegen den belarussischen Machthaber Lukaschenko bittet Oppositionsführerin Tichanowskaja Berlin um Unterstützung. Sie weiß: Etwas ändern kann nur Druck von außen.

Von Daniel Brössler

Swetlana Tichanowskaja hat keine Zeit. Eben stand sie internationalen Journalisten Rede und Antwort, in ein paar Stunden wird Angela Merkel sie im Kanzleramt empfangen. Zwischendurch gibt es Treffen mit fast allen Parteien im Bundestag. Bei ihrem Mitarbeiter hat sich eben noch das Büro von Christian Lindner gemeldet. Der FDP-Chef hätte auch noch gerne einen Termin. Die Frau aus Belarus, auf die seit wenigen Wochen die Welt schaut, müsste sich also beeilen. "Ich weiß, dass ich jetzt Zeit verliere", sagt sie, aber sie will über die Frage erst einmal nachdenken.

Ob sie in Deutschland nicht große Solidaritätskundgebungen vermisse für die Menschen, die in Belarus für ihre Freiheit auf die Straße gehen? "Natürlich wäre es schön, wenn die Deutschen auf die Straße gingen und ihre Solidarität bekundeten", sagt Tichanowskaja nachdenklich. Vielleicht würden die Deutschen ja vor allem die Bilder von fröhlichen Demonstranten auf belarussischen Straßen sehen und "vielleicht nicht verstehen, warum sie die unterstützen sollen". Die Brutalität des Regimes werde womöglich nicht ausreichend wahrgenommen.

Genau deshalb ist Tichanowskaja aus ihrem Exil in Vilnius für drei Tage nach Berlin gekommen. Nach der gefälschten Präsidentenwahl im August hatte sie darauf gesetzt, dass die riesige belarussische Protestbewegung die Herrschaft von Alexander Lukaschenko hinwegfegt. Mittlerweile ist sie überzeugt, dass die Massendemonstrationen alleine das Regime nicht zu Fall bringen werden. "Nur innerer und äußerer Druck werden etwas bewirken", sagt sie.

Und weil das so ist, fügt sich die 38 Jahre alte Englisch-Übersetzerin, die noch vor ein paar Monaten Hausfrau war, in das, was sie ihr Schicksal nennt. In Brüssel hat sie die EU-Außenminister ermahnt, endlich Sanktionen zu verhängen. In Vilnius hat sie den französischen Präsidenten Emmanuel Macron in die Pflicht genommen. Großen Spaß hat die Frau, die ohne Wahlfälschung mit ziemlicher Sicherheit Präsidentin wäre, nicht daran, den Mächtigen gegenüberzutreten. Angst aber auch nicht.

In Berlin, wo sie zum ersten Mal im Leben ist, hat sich Tichanowskaja zunächst einen Rest der Berliner Mauer angeschaut. Und "überrascht und erfreut" festgestellt, dass ein Stück davon rot und weiß bemalt worden ist, in den Farben von Belarus. Man habe ihr, berichtet Tichanowskaja, ein Foto gezeigt, das Ostdeutsche auf der Mauer zeige, bevor sie eingerissen wurde. "In den Augen dieser Menschen habe ich Freude gesehen. Das war", sagt Tichanowskaja, "wie in Belarus, wo sich alles ändern soll. Wir stehen auf dieser Mauer und werden sie einreißen."

Die Begegnung mit Merkel nennt Tichanowskaja eine "Ehre". Sie kenne niemanden, der die Einladung einer "der mächtigsten Politikerinnen der Welt" ausschlagen würde, mit einer Ausnahme natürlich. Sie meint Alexander Lukaschenko, der sich bislang geweigert hat, auch nur einen Telefonanruf der Kanzlerin entgegenzunehmen. "Unser Land braucht Hilfe. Es braucht Vermittlung", sagt Tichanowskaja. Merkels Unterstützung sei daher "außerordentlich hilfreich". Helfen, wenn sie kann, will Merkel. "Wenn man den Mut der Frauen sieht, der dort auf den Straßen gezeigt wird, für ein freiheitliches, von Korruption freies Leben, dann kann ich nur sagen: Ich bewundere das", hatte sie kürzlich im Bundestag gesagt.

Am Dienstag verließ der deutsche Botschafter Minsk, "um Gespräche in Berlin zu führen". Damit ist Deutschland dem Beispiel Polens und Litauens gefolgt und erhöht so den diplomatischen Druck. Die Frage ist nun, was Merkel überhaupt noch tun kann. Weil Zypern im Streit über Mittelmeer-Bohrungen Strafen gegen die Türkei erpressen wollte, hatte die Europäische Union Wochen gebraucht, um wenigstens Einreiseverbote und Kontensperrungen gegen 40 von Lukaschenkos Leuten zu verhängen. "Wir sind dankbar für die Sanktionen und betrachten sie als unseren Sieg", sagt Tichanowskaja diplomatisch. Die Liste müsse aber erweitert werden, etwa um russische Journalisten, die den Platz von Belarussen eingenommen hätten, um Propaganda für Lukaschenko zu betreiben.

Grundsätzlich aber ist Tichanowskaja einverstanden damit, es erst einmal bei Einreiseverboten und Kontensperren zu belassen. Zwar seien solche Sanktionen vielleicht nur symbolisch, aber sie zeigten, "dass unsere Nachbarn nicht gleichgültig sind gegenüber den Problemen unseres Landes". Der Druck werde stärker werden und das womöglich auch müssen. "Vielleicht in der Zukunft, wenn wir sehen, dass sich nichts ändert, werden wir um ernstere Schritte bitten", sagt Tichanowskaja.

Tatsächlich hofft die Oppositionsführerin nun erst einmal auf die Kraft der Diplomatie, was am Dienstag auch das Anliegen ist, mit dem sie ins Kanzleramt kommt. Da das "frühere Staatsoberhaupt, das immer noch die Macht hat" - wie Tichanowskaja Lukaschenko nennt - nicht aufs Volk höre, müssten andere mit ihm sprechen, vorzugsweise mächtige ausländische Politiker. "Ich glaube, dass Frau Merkel andere Weltpolitiker beeinflussen kann", sagt Tichanowskaja im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung. Sie denkt da speziell an einen, dessen Namen sie auch nicht gerne ausspricht: Russlands Präsidenten Wladimir Putin. "Er ist wichtig. Das verstehen wir." Ohne russische Unterstützung und russisches Geld wäre Lukaschenko bereits am Ende, ist Tichanowskaja überzeugt. Putin sei es, der Lukaschenko sagen müsse: "Setz dich an diesen Verhandlungstisch."

Ob das realistisch ist, weiß die Oppositionsführerin selber nicht. Der Umgang mit Putin und Russland bereitet ihr Kopfzerbrechen, und sie ist selbstbewusst genug, das nicht zu verbergen. Was sie brauche, gerade auch von Merkel, sagt sie, sei Rat. Sie "habe immer Angst, nicht die richtige Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die dem belarussischen Volk nicht hilft." Vielleicht sei es richtig, selbst die Fühler auszustrecken nach Russland, vielleicht aber auch nicht. Selbst ihre Berater, die sich seit Jahren in der Politik tummelten, seien da unsicher. Überzeugt aber ist die Oppositionsführerin, dass es keinen Bruch geben müsse mit Russland. "Wir wollen mit Russland befreundet bleiben, auch wenn Lukaschenko geht", sagt sie. Ähnlich ist ihre Botschaft nach dem 45-minütigen Gespräch mit der Kanzlerin. Die Proteste in Belarus seien kein "Kampf gegen Russland oder Europa", sondern eine Folge der Krise im Land selbst, schrieb sie im Nachrichtenkanal Telegram. Ihr Ziel sind jetzt erst einmal Neuwahlen. Ob sie danach in der Politik bleibe, wisse sie nicht, sagt sie. Eigentlich habe sie, die ursprünglich für ihren inhaftierten Mann einsprang, das ja nicht gewollt. "Aber wer weiß", sagt sie dann, "wenn alles wundervoll ist, es keine Angst gibt und du nicht so viel kämpfen musst, dann ist es vielleicht leicht, eine Politikerin zu sein."

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Quelle:
SZ vom 07.10.2020
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