Am Ende sind es wieder mehr als hunderttausend, die in Minsk zu großen Protestzügen gegen Machthaber Alexander Lukaschenko strömen. Zu viele, um sie aufzuhalten. Die belarussischen Sicherheitskräfte hatten in der Innenstadt zwar erneut Plätze mit Stacheldraht und Straßen mit Militärfahrzeugen gesperrt. Polizei, Omon-Spezialkräfte und maskierte Männer ohne offizielle Abzeichen nahmen seit mittags friedliche Demonstranten fest, gingen häufig brutal vor. Auch Frauen schleppten sie in die unbeschrifteten Kleinbusse. Bis zum Abend zählte das Innenministerium 400 Festnahmen allein in Minsk, es dürften weit mehr gewesen sein. Die Demonstrierenden ließen sich nicht abschrecken. In vielen Städten gingen sie nun am sechsten Sonntag in Folge auf die Straße. In Brest an der polnischen Grenze setzte die Polizei Wasserwerfer ein. In Minsk strömten die Menschen nicht nur zur Stele, dem zentralen Kriegsdenkmal. Ein großer Protestzug bewegte sich Richtung Drosdy, dort wohnt Lukaschenko. Sicherheitskräfte versperrten den Weg mit Gittern und gepanzerten Fahrzeugen.
Es war der erste Protest ohne Maria Kolesnikowa, der erste ohne führende Oppositionelle. Deren Idee, durch einen Koordinierungsrat eine Machtübergabe einzuleiten und alle Gruppen der Gesellschaft einzubinden, hatte Lukaschenko für verfassungswidrig erklärt. Alle leitenden Mitglieder des Rates wurden festgenommen oder mussten das Land verlassen. Geblieben ist nur die Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, auch auf sie üben Sicherheitskräfte nun Druck aus. Maria Kolesnikowa hatte sich dagegen gewehrt, in die Ukraine abgeschoben zu werden, und sitzt seither in Untersuchungshaft. Ihre Anwältin teilte mit, Kolesnikowa habe Klage gegen Geheimdienstmitarbeiter eingereicht, die ihr körperliche Gewalt angedroht hatten, sollte sie Belarus nicht verlassen.
Vielleicht wollte Alexander Lukaschenko dem russischen Präsidenten mit den Festnahmen demonstrieren, dass er die Lage im Griff hat. Die Sonntagsproteste haben Lukaschenko diesen Eindruck verdorben. An diesem Montag soll er Wladimir Putin in Sotschi treffen, die erste Begegnung seit der Siegesparade im Juni in Moskau. Lukaschenko kommt nun in einer Rolle, die er immer vermeiden wollte: Als Bittsteller an den "älteren Bruder", so hat er Putin kürzlich in einem Interview genannt. Aus dem Kreml hieß es knapp, in Sotschi gehe es um gemeinsame Handelsprojekte, Wirtschaft, Energie und Kultur, und um den "fortschreitenden Integrationsprozess innerhalb des Unionsstaats".
Diese stärkere Zusammenarbeit hatte Lukaschenko bisher ausgebremst, mit dem Argument, er wollte die belarussische Unabhängigkeit bewahren. Nun scheint er bereit, sie Russland zu opfern, wenn er dadurch Präsident bleiben kann. Für den Kreml, der Belarus stärker an sich binden möchte, werden die Proteste zur Gelegenheit. Es sei aber nicht geplant, irgendwelche Dokumente in Sotschi zu unterzeichnen, hieß es.
Die belarusssiche Bevölkerung ist bisher eher russlandfreundlich
Putin hatte Lukaschenko bereits öffentlich Unterstützung zugesichert: In einem Interview mit dem russischen Staatsfernsehen versprach er eine Sondereinheit, sollten die Dinge in Minsk eskalieren. Jedoch schob der Kreml kurz darauf hinterher, dass er dafür bisher keine Notwendigkeit sehe. Putins Zusicherung war wohl auch Signal an Lukaschenkos Sicherheitsapparat und die politische Elite in Minsk, dass der Machthaber von Moskau gestützt wird.
Eine Hilfstruppe hat Russland bereits geschickt: Kreml-nahe Journalisten ersetzen längst die streikende Belegschaft in den belarussischen Staatsmedien. Dazu kam wirtschaftliche Unterstützung: Eine Milliarde Dollar Schulden, die Minsk in Moskau hat, wurde bereits refinanziert. Es gibt nun auch Gespräche darüber, belarussische Exporte über russische Häfen zu verschicken. Bisher ist Lukaschenko stark auf den litauischen Hafen in Klaipeda angewiesen. Dem drohte Lukaschenko nun mit Boykott, Litauen ist solidarisch mit der Demokratiebewegung. Putin selbst hat keinen Grund, Lukaschenko zu trauen. Vor wenigen Wochen hatte dieser Russland noch beschuldigt, sich in die Wahl einmischen zu wollen. Putin hat kein Interesse daran, Belarus zum Beispielfall dafür werden zu lassen, wie man einen Autokraten abwählt. Doch die Hilfe aus Moskau ist keine Garantie dafür, dass der Kreml Lukaschenko als alternativlos betrachtet. Je stärker Lukaschenko die russischen Helfer in sein System lässt, desto entbehrlicher macht er sich für Putin. Der war bisher auf den belarussischen Machthaber als Verhandlungspartner angewiesen, hat ihn daher trotz seiner ständigen Volten geduldet.
Putin unterstützt die Idee aus Minsk, die Verfassung zu ändern. Lukaschenko kann damit Zeit gewinnen. Für Putin ist es eine Möglichkeit, Einfluss auf die Reform und eventuelle Neuwahlen zu nehmen. Dafür riskiert er, die belarussische Bevölkerung gegen sich aufzubringen. Die ist bisher überwiegend freundschaftlich gegenüber Russland eingestellt. Die führenden Oppositionellen hatten sich eine Zusammenarbeit gewünscht. Doch Putin hat sich für die andere Seite entschieden.
Bei dem Protest am Sonntag wurde Frust darüber laut. "Bleib in Sotschi", riefen die Demonstranten Lukaschenko zu.