Seriöser Journalismus verzichtet im Allgemeinen darauf, Überschriften als Fragen zu formulieren. Denn mit dieser Methode lässt sich jede noch so abstruse These zur Headline zu machen.
Das russisch-sprachige Nachrichtenportal Meduza hat gegen diese Regel verstoßen, als es einen seiner jüngsten Berichte über den Volksaufstand in Belarus mit der Schlagzeile versah: "Haben Sie gedacht, dass das russische Staatsfernsehen versuchen wird, den Euro-Maidan in Belarus zu wiederholen?"
Allerdings war es der Leserschaft in diesem Fall klar, dass die Frage rhetorisch gemeint war. Die Antwort lieferte die Internet-Zeitung in reißerischer Manier ja gleich mit: "Richtig gedacht!"
Meduza gehört zu den wenigen russisch-sprachigen Medien, die sich ihre Unabhängigkeit vom Kreml bewahrt haben. Insofern war der Vorwurf an die Adresse der russischen TV-Staatssender ernst zu nehmen: Diese würden über den Volksaufstand im Nachbarland ähnliche Verschwörungstheorien verbreiten, wie es beim Kiewer Massenprotest "Euromaidan" im Winter 2013/14 der Fall war.
Tatsächlich hatte etwa der strikt regierungstreue Perwy kanal ( Channel One) in seiner Berichterstattung betont, dass der Westen aus Belarus "einen Pufferstaat zu Russland" machen wolle, während die Nato an der Grenze zu Belarus bereits Manöver abhalte. Die belarussische Chat-Gruppe "Nexta" der russischen Messenger-App Telegram sei das Werkzeug über das die Proteste koordiniert würden, so der Staatssender: "Nexta beschäftigt Hunderte Mitarbeiter, die von Kräften finanziert werden, die Belarus destabilisieren wollen." Dazu gehörten "ausländische Mächte" wie Litauen, Lettland und Polen sowie vor allem die USA, die ein großes Interesse an der derzeitigen Entwicklung in Belarus hätten.
Ähnlich schrill hörten sich die Meldungen über Belarus auch auf Rossija 1 an, einem Sender, der direkt der Medienaufsicht der Regierung untersteht. Dessen Berichte waren von Parallelen zwischen den Protesten in Belarus und auf dem Euromaidan durchzogen. Über Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, die auf Druck der belarussischen Behörden ausgereist war, hieß es, sie habe sich im Schutze der Nacht nach Litauen abgesetzt. Ihre Aufrufe von dort, die Proteste fortzusetzen, seien der Versuch, den Euromaidan zu wiederholen. Russland, so Rossija 1, solle wieder in die Rolle des Aggressors gebracht werden.
Doch ganz so einseitig, wie es die Meduza-Überschrift suggerierte, ist die Berichterstattung der russischen Staatsmedien über den Aufstand in Belarus auch wieder nicht. Der Fernsehsender NTW, der mehrheitlich dem Staatskonzern Gazprom gehört, präsentierte die Demonstranten gegen Präsident Lukaschenko in einem guten Licht: "Ich habe die Menschen in Belarus noch nie in dieser Einheit zusammengeschweißt gesehen", sagte eine Teilnehmerin der Protestzüge bei NTW in die Kamera. Ein junger Mann erklärte dem Sender, er habe sich den Demonstrationen wegen des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte angeschlossen.
Das uneinheitliche Bild deckt sich mit den Beobachtungen der russischen Journalistin Arina Borodina, die für den unabhängigen Radiosender Echo Moskwy täglich die russischen Fernsehnachrichten analysiert. Sie kommt zu dem Schluss, dass es ausnahmsweise keine klare Direktive gab, wie das russische Staatsfernsehen die Ereignisse in Belarus darstellen soll.
Eine staatliche Ansage, wie zu berichten ist, bekommt die russische Presse schon seit der Präsidentschaft Boris Jelzins in den Neunzigerjahren. In Bezug auf Belarus scheine im Kreml aber keine eindeutige kohärente Beurteilung vorzuliegen, weswegen die im Russischen als "Tjemnik" bezeichnete Anordnung der Präsidialverwaltung an die Medien im Falle von Belarus unterblieben sein müsse, schlussfolgert Borodina: "Anders ist nicht zu erklären, dass einerseits Behauptungen der belarussischen Staatsmacht von einem Aufmarsch der Nato an der Landesgrenze im russischen Fernsehen als Realität hingestellt werden, dort andererseits aber Präsident Alexander Lukaschenko in einem sehr schlechten Licht dargestellt wird, als Mann etwa, der Wahlen fälscht."
"Nicht mehr zeitgemäß"
Die Beobachtungen Borodinas stimmen mit dem Eindruck überein, den die Politologin Lilia Schewtsowa von der Situation hat: "Ich würde es als 'kognitive Dissonanz' bezeichnen, wie Russlands offizielle Medien vom Fernsehen bis zu Tageszeitungen wie der Iswestija über die Lage in Belarus berichten, besonders seit vergangener Woche nach der Wahl vom 9. August", sagt die Russland-Expertin der Londoner Denkfabrik Chatham House. "Zum einen wird die Gefahr einer weiteren Farbrevolution an die Wand gemalt, die der Westen zur Einflussnahme nutzen will, zum anderen wird aber sehr deutlich gemacht, dass Lukaschenko falsch gehandelt und berechtigte Bedürfnisse der Menschen nicht ernst genommen hat."
Krise in Belarus:Der große Spagat der Lukaschenko-Gegner
Die Opposition sucht einerseits Unterstützung in Europa. Zugleich muss sie aber das Signal nach Moskau senden, dass ihre Ziele nicht antirussisch sind.
Besonders überrascht sei sie darüber gewesen, dass es die russischen Medien waren, die nach Putins Angebot einer Sicherheitsunterstützung an Lukaschenko im Rahmen der Russisch-Belarussischen Union verdeutlicht hätten, dass die gegenseitige militärische Unterstützung beider Länder im Unionsvertrag nur bei einer ausländischen Militärintervention gelten würden. "Das ist eine sehr wichtige Einschränkung", betont Schewtsowa. "Denn es gibt ja keine ausländische Aggression."
Im Kreml gebe derzeit wahrscheinlich unterschiedliche Auffassungen darüber, wie mit der Situation in Belarus umzugehen sei, vermutet Schewtsowa: "Da gibt es einerseits Leute wie Nikolai Patruschew, den Sekretär des Sicherheitsrates, die wahrscheinlich betonen, dass hier wieder eine Farbrevolution im Gange ist. Dass Länder wie Polen und Litauen, Einfluss nehmen wollen", sagt die Publizistin. "Dann gibt es offensichtlich aber auch pragmatischere Mitarbeiter, die argumentieren, dass der Außenseiter Lukaschenko nicht mehr zeitgemäß ist, und ihm nicht vertraut werden kann. Diese Auffassung scheint in der russischen Präsidialverwaltung derzeit zu überwiegen, denn Moskau ist gegenüber Belarus auffällig zurückhaltend."
"Das Beispiel Ukraine sollte nicht wiederholt werden"
Ähnlich beurteilt auch Dmitrij Trenin die Lage. Von allen Möglichkeiten, die der Kreml derzeit habe, um die Geschehnisse in Belarus in seinem Sinne zu beeinflussen, sei die beste, an die Zeit nach Lukaschenko zu denken und die Übergabe der Macht in Minsk im Hintergrund mitzugestalten, argumentiert der Direktor des Carnegie Moscow Centers in einem aktuellen Aufsatz für die US-Denkfabrik: "Vor dem Hintergrund der schon lange gehegten Vision eines Staatenbundes wirkt das möglicherweise wie ein Ansatz, der zu bescheiden erscheint", schreibt Trenin. "Aber das ist besser, als aus einem nahen Verwandten einen unerbittlichen Feind zu machen. Das Beispiel in der unmittelbaren Nachbarschaft - der Ukraine - sollte nicht wiederholt werden."