Friedliche Proteste in Belarus:Sie haben Angst, doch ihre Entschiedenheit ist größer

Students of Minsk State Linguistic University attend a rally in support of their detained fellows in Minsk

Rot-weiße Flaggen, wie sie diese Studenten in Minsk tragen, sind ein Erkennungszeichen der Opposition.

(Foto: TUT.BY via REUTERS)

Die Regierung in Belarus geht teils brutal gegen die friedlichen Proteste nach der Wahl vor, es ist von "Massenterror" die Rede. Trotzdem werden es viele nicht müde, ihren Unmut und die Farben der Opposition auf der Straße zu zeigen.

Von Frank Nienhuysen

Sie sangen die Marseillaise, diese eindringliche Hymne gegen Tyrannei. Dann kam die Sonderpolizei. Die Studierenden der Minsker Staatlichen Linguistischen Universität erlebten schwere Minuten, als die Staatsgewalt mit drei Minibussen ohne Kennzeichen in den Hof fuhr, in das Unigebäude ging und im Foyer mehrere Studenten festnahm. Auf dem Video sind Schreie zu hören, eine ältere Frau ist zu sehen, wie sie ihre Hände vor das Gesicht hält, sich wegdreht und Richtung Treppe flüchtet. So kommuniziert der belarussische Staat derzeit mit seiner Gesellschaft.

Eine Woche ist der Einsatz her, und die Lehrer haben geantwortet: Sie veröffentlichten ein Video, sie zeigen sich einzeln, lassen ihren Namen einblenden, ihr Unterrichtsfach, jeder sagt einen Satz. Julia Swetlowitsch, Dozentin für ausländische Literatur, sagt diesen: "Für die Mehrheit in unserem Land wurde die Grenze in den ersten Tagen nach der Wahl überschritten." Ihre Kollegin Jekaterina Pawljutschkowa äußerte sich mitfühlend über ihre eigenen Studierenden: "Es war schmerzhaft für uns, ihre Tränen zu sehen."

Ein Dozent der Universität, der anonym bleiben will, schreibt der Süddeutschen Zeitung, dass im Staat "absolute Gesetzwidrigkeit und Massenterror vorherrschen. Wenn man festgenommen wird, hat man keine Chance, seine Unschuld zu beweisen". Er berichtet auch von der Furcht einiger Kollegen, die "nach den brutalen Festnahmen der vergangenen Tage eingeschüchtert sind"; es ist die Angst, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, sollten sie sich an irgendeiner Protestaktion beteiligen. Wozu sie bereit seien, ist dies: bei der wöchentlichen Großdemonstration mitzulaufen, die auch für diesen Sonntag wieder geplant ist. Zehntausende Menschen geballt an einem Ort, das bietet den staatlichen Angestellten der Universität viel Schutz.

In der Beschreibung des Lehrers und in dem Video seiner Kolleginnen und Kollegen verdichtet sich symbolhaft die Stimmung, die Belarus einen Monat nach der offensichtlich gefälschten Präsidentenwahl prägt: Ängste vor dem hart durchgreifenden Staat mischen sich mit der Entschiedenheit vieler Menschen, Haltung zu zeigen, nicht mehr wegschauen zu wollen. Es ist ein Machtkampf in allen Gesellschaftsschichten, brutal auf der einen, friedlich auf der anderen Seite. Und er wird nicht nur sichtbar beim Präsidium des oppositionellen Koordinierungsrats, etwa bei der Verhaftung von Maria Kolesnikowa.

Als im wirtschaftlich wichtigen Unternehmen Belaruskali, einem der größten Kaliproduzenten der Welt, ein Streik begann, wurde der Anführer des Streikkomitees entlassen und inhaftiert. Ein Mitglied des Komitees sprach von "Repressionen durch das Regime." In den ersten drei Streiktagen hätten sich etwa 4000 Mitarbeiter beteiligt, doch durch den Druck seien viele zurück zur Arbeit gegangen. Am Mittwoch ließ sich der Angestellte Jurij Korsun 300 Meter tief in den Schacht hinab. Er kettete sich an und sagte, er werde die Mine nicht eher verlassen, bis die Einschüchterungen aufhörten und Präsident Lukaschenko zurücktrete. Er wurde mit Gewalt heraufgeholt und in ein Krankenhaus gebracht.

Der leitende Feuerwehrmann Maxim Staschulenok wurde entlassen, weil er sich weigerte, rot-weiße Flaggen der Opposition von Minsker Häusern zu reißen und deshalb Anwohner gewarnt hatte. Er könnte sich vor Gericht wehren, doch die Zunft der belarussischen Juristen hat ihr eigenes Problem in diesen Wochen. Nach einem Bericht der Internetzeitung tut.by unterzeichneten mehr als 1800 Juristen eine öffentliche Erklärung, als zwei ihrer Kollegen festgenommen wurden, die unter anderem die Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa vertreten hatten. In der Erklärung heißt es, dass Anwälte "beispiellosen Widerstand und Druck der Sicherheitsbehörden" spürten und schon nicht mehr in der Lage seien, vollständig und sicher ihre Arbeit zu machen, mit gravierenden Folgen: "Bürger und die Gesellschaft sehen in Anwälten nicht mehr einen echten Schutz bei Rechtsverletzungen."

Staatschef Lukaschenko hat seine Sicht auf all diese Dinge. Als er vor wenigen Tagen den neuen Generalstaatsanwalt vorstellte, sprach er von einer "nicht einfachen Periode", die sein Land gerade durchmache. Aber Belarus dürfe nicht in die Neunzigerjahre zurückfallen, als bei Protesten Autos umgeworfen und angezündet worden seien. Die Strafbehörden wies er an, auf "Organisatoren und Agitatoren härter und schärfer zu reagieren".

Von gewaltsamen Protesten kann allerdings keine Rede sein. Maria Skorochod etwa nimmt mindestens einmal in der Woche lediglich einen Regenschirm in den Oppositionsfarben Rot-Weiß in die Hand und geht mit ein paar Dutzend anderen Frauen durch Minsk spazieren. Rot und weiß ist auch ihre Kleidung, sie nehmen was sie im Schrank hängen haben. Skorochod hat auf Whatsapp ein paar Fotos geschickt, auf einem trägt eine ihrer Kolleginnen ein langes, rotes Abendkleid, als ginge sie ins Theater. Aber sie wollen sich auf den Minsker Straßen zeigen. Maria Skorochod erzählt am Telefon, dass sie gezielt große Straßen im Zentrum und Plätze aussuchen, dort wo andere sie in den Farben des Protests sehen. "Eine Sicherheit vor Zugriffen der Behörden haben wir nicht", sagt sie. "Viele Menschen fürchten sich zu demonstrieren, aber dies nicht zu tun, würde sie noch stärker ängstigen. Mit Schirmen herumzulaufen, ist noch am wenigsten gefährlich."

"Die Gesellschaft wird nie mehr dieselbe sein"

Skorochod ist 24 und unterrichtet in Minsk Sprachen an einer eigenen kleinen Schule. Sie erzählt, dass sich mit Beginn der Protestbewegung auch in der Gesellschaft etwas verändert hat. Die Anonymität in den Nachbarschaften hat sich abgebaut, plötzlich trifft man sich in den Innenhöfen, redet über die Lage im Land, die Sorgen, die Hoffnungen, trinkt Tee zusammen, verabredet sich zu Protestspaziergängen, die vor allem Gemeinsamkeit demonstrieren sollen. "Das sehen ja auch all die Polizisten und Einsatzkräfte, vielleicht werden ja manche von ihnen nachdenklich", sagt Skorochod. Ob es denn was nützt, all die Spaziergänge, die Massendemonstrationen, und was ist, wenn der Winter anbricht? "Dann müssen wir womöglich auch noch andere Formen finden", sagt sie.

Der belarussische Schriftsteller Artur Klinau glaubt nicht, dass die Menschen in Belarus müde werden, ihr Wunsch nach Veränderung mit den Temperaturen sinken könnte. "Bis jetzt kann ich keine Ermüdung erkennen, ich sehe das Gegenteil: Je höher der Druck des Staates auf die Gesellschaft wird, desto stärker wächst die Empörung", schreibt er in einer E-Mail an die SZ. "Sollte die Dynamik sich verringern, dann nicht, weil die Menschen verängstigt sind, sondern weil es in jedem Prozess eine Ermüdung gibt. Aber das wird auch für die Staatsmacht gelten."

Niemand habe erwartet, dass "es einen schnellen Sieg geben kann. Sicher, wir erleben eine Phase der Einschüchterung von Aktivisten", schreibt Klinau. "Aber ich hoffe, dass das nicht von Dauer ist." Die Führung müsse von ihrer Haltung abrücken und einen Dialog mit der Bevölkerung suchen. Eine Rückkehr zu früheren Zeiten werde es nicht geben, sagt der Schriftsteller: "Die Gesellschaft wird nie mehr dieselbe sein."

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