Süddeutsche Zeitung

Belarus:Es wird einsam um Lukaschenko

Wegen der brutalen Übergriffe der Polizei wollen Gegner von Belarus' Machthaber Strafanzeige stellen. Vizekanzler Scholz nennt Lukaschenko einen "schlimmen Diktator".

Von Silke Bigalke, Moskau

Sie sind auf den Unabhängigkeitsplatz in Minsk gekommen, um für den Machthaber zu jubeln. "Für Lukaschenko!" rufen ein paar Tausend Menschen am Sonntag. "Für Lukaschenko": Das war das Motto der Demonstration, die der bejubelte Präsident von Belarus persönlich bestellt hatte. Und dann steht er plötzlich vor ihnen: Er möge Kundgebungen nicht, ruft Alexander Lukaschenko ihnen zu, "aber es ist nicht mein Fehler, dass ich euch hierherrufen musste". Er ruft seine Unterstützer auf, ihn und das Land zu verteidigen. Wenn er zerstört werde, sagt der Machthaber, sei dies der Anfang vom Ende für Belarus.

Eine Wiederholung der Wahlen lehnt er ab. "Ich lasse nicht zu, dass unser Land aufgegeben wird, selbst wenn ich tot bin", sagt er. Es war eine verzweifelte Rede. Nach einer Woche heftiger Proteste wollte Alexander Lukaschenko zeigen, dass eine Mehrheit der Belarussen hinter ihm stehe. Er hat Getreue aus den Regionen anreisen lassen, viele waren Mitarbeiter staatlicher Unternehmen und vermutlich nicht alle freiwillig gekommen. In der Mehrheit waren sie auch an diesem Sonntag nicht.

Während Lukaschenko sprach, versammelten sich Demonstrierende gegen ihn und "für die Freiheit" nicht weit entfernt am Siegespark. Sie waren in großer Überzahl, etwa 200 000 Menschen schätzten belarussische Medien. Später strömten sie zum Parlament, dorthin, wo sich Lukaschenko zuvor hatte bejubeln lassen. Dessen bestellte Unterstützer waren da bereits weg. Auch in vielen anderen Städten gab es Proteste.

Lukaschenkos alte Taktiken greifen nicht mehr

Fast die gesamte Gesellschaft, das zeigt sich seit einigen Tagen, steht zusammen, Ärzte, Arbeiter, Polizisten, Olympiasieger. Nur einer steht immer einsamer da: Alexander Lukaschenko. Der Machthaber will das nicht wahrhaben. Lukaschenko beharrt weiterhin darauf, dass die Bedrohung aus dem Ausland komme. Er will nun Fallschirmjäger an die Grenze zu Polen verlegen, und begründete dies mit Nato-Übungen in der Region. "Das können wir uns nicht ruhig anschauen", sagte er bei einer Sitzung des Generalstabs. Dass die Opposition vom Ausland gesteuert sei, hat er immer wieder behauptet.

Doch in seiner Bedrängnis beginnt Lukaschenko längst, sich selbst zu widersprechen. Vor der Wahl warnte er vor einer Einmischung durch Russland. Am Wochenende telefonierte er gleich zwei Mal mit Wladimir Putin und bat Russlands Präsidenten offenbar genau um dies. Nach Lukaschenkos Worten habe Putin ihm Unterstützung angeboten. Vom Kreml hieß es zunächst nur, die Probleme seien sicher bald beigelegt. Hauptsache sei es, die guten Beziehungen zwischen den Ländern zu schützen. Dass Lukaschenko seinen Job behält, scheint für Moskau nicht oberste Priorität zu haben.

Auch Lukaschenkos alte Taktiken greifen nicht mehr. Früher konnte er Demonstrierende mit überzogener Gewalt abschrecken. Auch dieses Mal haben Polizei und Omon-Spezialkräfte 6700 Menschen festgenommen. Viele von ihnen bringen nach der Entlassung schwere Verletzungen, mindestens aber Blutergüsse mit, sie berichten von Tritten und Schlägen, von überfüllten Zellen und Wassermangel, davon, wie die Festgenommenen in ihrem eigenen Blut auf dem Boden liegen mussten. Die Mehrheit ist immer noch in Haft, ihre Angehörigen wissen nicht, wie es ihnen geht.

Am Montag wollen Lukaschenkos Gegner Strafanzeige wegen der Polizeigewalt gegen friedliche Bürger stellen. Die Sicherheitskräfte müssten für die brutalen Misshandlungen von Demonstranten und Gefangenen zur Verantwortung gezogen werden, sagte die Oppositionelle Maria Kolesnikowa.

Ein 25-Jähriger starb in Polizeigewahrsam, die Todesursache ist noch ungeklärt. Er wurde am Sonntag in seiner Heimatstadt Gomel beigesetzt. In Minsk gedachten am Samstag mehr als 5000 Menschen eines weiteren Toten: Alexander Taraikowski kam während der Proteste ums Leben. Ein Sprengsatz soll in seiner Hand explodiert sein, doch an die offizielle Darstellung wollen viele nicht glauben. Augenzeugen berichteten, er habe nichts in der Hand gehalten, sondern sei von etwas getroffen worden. Die Einsatzkräfte hatten Blendgranaten, Gummigeschosse, Tränengas und laut Innenministerium auch Schusswaffen eingesetzt. Dort, wo Taraikowski tödlich verletzt worden war, legten die Menschen Blumen ab.

Während immer mehr Folterberichte aus den Gefängnissen öffentlich wurden, setzten die Protestierenden auf Friedensgesten. Frauen umarmten die Einsatzkräfte und steckten Blumen an deren Schilde. Nach einer Demonstration am Freitag auf dem Unabhängigkeitsplatz gingen die Leute friedlich nach Hause und nahmen sogar ihren Müll mit. Immer wieder hatten sich auch Menschenketten in den Städten gebildet, oft waren es Frauen, viele trugen Weiß.

Es ist die Farbe von Swetlana Tichanowskaja, die als einzige unabhängige Kandidatin bei den Wahlen vor einer Woche angetreten war. Die Demonstrierenden halten sie für die eigentliche Siegerin, sie ist inzwischen nach Litauen geflüchtet. Eine Menschenkette durchs ganze Land, von Litauen bis in die Ukraine, sagte Lukaschenko nun, werde er zu verhindern wissen. Der Widerstand gegen ihn ist jedoch großflächig.

Prominente Moderatoren aus den Staatsmedien kündigten ihre Jobs, die ersten Angestellten der Präsidentialverwaltung ebenfalls. Polizisten warfen ihre Uniformen weg und stellten Videos davon ins Internet. Die vierfache Biathlon-Olympiasiegerin Darja Domratschewa schrieb angesichts der Härte der Einsatzkräfte auf Instagram: "Lasst diesen ungerechten Horror auf den Straßen nicht weitergehen."

"Wir sind keine Schafe, wir sind keine Herde"

Seit Lukaschenko erklärt hatte, die Protestierenden seien Schafe, und nur Arbeitslose und Kriminelle gingen auf die Straße, traten immer mehr Staatsbetriebe in den Streik. Am Freitag marschierten die Arbeiter der Traktorenfabrik MTZ in Minsk zum Protest. "Wir sind keine Schafe, wir sind keine Herde, wir sind keine kleinen Leute", stand auf ihrem Banner. Beim Minsker Automobilwerk MAZ standen Arbeiter klatschend im Hof und riefen: "Wahlen! Wahlen!"

In Grodno an der polnischen Grenze hörten die Mitarbeiter eines Textilherstellers ihrem Chef zu. Da rief plötzlich einer: "Wer hat für Tichanowskaja gestimmt?" - fast alle standen auf. In vielen Betrieben gab es solche spontanen Abfragen, von denen Videos öffentlich wurden. Immer hatte die große Mehrheit für Tichanowskaja gestimmt. Sogar aus einem Linienbus, zeigt ein Video, hört man nun den Song "Peremen", "Wandel", der zum Soundtrack der Proteste geworden ist. Vor der Wahl waren zwei DJs noch zu zehn Tagen Haft verurteilt worden, weil sie ihn gespielt hatten.

Swetlana Tichanowskaja hatte am Freitag per Videobotschaft zum friedlichen Protest aufgerufen. Sie habe immer gesagt, dass sie die Wahl nur auf "legale, gewaltfreie Weise" verteidigen sollten. Aber die Behörden hätten die friedliche Demonstration "in ein blutiges Massaker" verwandelt. Nun appelliere sie an die Bürgermeister der Städte: "Geht raus und fangt an, zu reden und den Leuten zuzuhören."

Sie will einen Koordinierungsrat für die Machtübergabe gründen. Für diesen Rat können sich Vertreter der Gesellschaft bewerben, Leute mit Expertise und Kontakten, aus Parteien und Gewerkschaften. "Wir brauchen wirklich Ihre Hilfe und Erfahrung", sagte die Oppositionsführerin.

Aus dem Westen bekommen die Demonstranten weiterhin Solidaritätsbekundungen. Der französische Präsident Emmanuel Macron schrieb bei Twitter: "Die EU muss sich weiterhin für die Hunderttausenden Weißrussen, die friedlich für die Achtung ihrer Rechte, Freiheit und Souveränität protestieren, einsetzen."

In Deutschland bezeichnete Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz Lukaschenko als einen "schlimmen Diktator". Er sprach sich für einen Rückzug Lukaschenkos aus. "Ich glaube, dass wer auf diese Art und Weise mit seinem Volk umgeht, jede Legitimation für die Regierung des Landes verloren hat", sagte Scholz. Die Entscheidung darüber müsse aber Belarus selber treffen.

Lukaschenko habe keine Mehrheit mehr in seinem Volk. Und wenn es nur nach demokratischen Regeln gehe, "dann wird er nicht mehr lange im Amt sein", sagte Scholz. Allerdings gehe es bei dem Machthaber, der mit brutaler Gewalt regiere, nicht nach demokratischen Regeln. Man müsse jetzt dafür sorgen, dass die Kraft und der Mut der Protestierenden auch zu Veränderungen führen könne. Die EU müsse "entschlossen und klar" sein.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5000571
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 17.08.2020/fued
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.