Süddeutsche Zeitung

Belarus:Freiheit siegt

Lukaschenko bleibt nur der Rücktritt. Die Frage ist, wann er das einsieht. Die Belarussen lassen sich nicht mehr betrügen und einschüchtern. Drei Dinge machen den Protest so besonders.

Kommentar von Silke Bigalke

Ein ebenso riskantes wie verzweifeltes Schauspiel hat Alexander Lukaschenko am Sonntag aufgeführt. Er trommelte einige Tausend Getreue zusammen, rief sie auf, ihn zu verteidigen - gegen Hunderttausende, die sich zur gleichen Zeit in der Stadt versammelt hatten. So wurde für alle Welt deutlich: Für Lukaschenko ist das eigene Volk zum Feind geworden. Da ruft ein Diktator nach Hilfe, aber sie wird wohl nicht kommen, auch nicht von Russlands Präsident Wladimir Putin. Lukaschenko bleibt nur der Rücktritt. Die Frage ist, wann er das einsieht, und wie viel Leid er vorher noch anrichtet.

Der belarussische Freiheitshunger ist zu groß geworden. Das hat erst mal nichts damit zu tun, dass die Belarussen sich dem Westen annähern oder dem Einfluss Russlands entrinnen wollten. Egal, wie sehr Lukaschenko beschwört, die Proteste seien vom Ausland orchestriert: Der einzige Grund für seine Misere ist er selbst.

Bei Lukaschenko sind die üblichen Alterserscheinungen eines Autokraten besonders weit fortgeschritten. Er hat das Verständnis für die Menschen so restlos verloren, dass er es nicht einmal mehr vortäuschen kann. "Batka", Väterchen, nannten die Belarussen Lukaschenko einst, doch das ist vorbei. Wo das Vertrauen verloren geht, bleiben als Instrumente der Herrschaft nur noch Betrug und Terror. Aber die Belarussen lassen sich nicht mehr betrügen und einschüchtern.

Grobe Fehleinschätzungen Lukaschenkos haben die Entwicklung in den vergangenen Wochen beschleunigt. Der selbsternannte Volkspräsident schrieb die Hälfte des Volkes ab, als er erklärte, Frauen könnten das Präsidentenamt nicht ausüben. Dem ganzen Volk hat er demonstriert, wie herzlich egal es ihm ist, als er die Corona-Krise nicht ernst nahm. Anstatt das Ergebnis der Präsidentschaftswahl dann an die schlechte Stimmung im Land anzupassen, wollte er sich satte 80 Prozent zuschreiben. Er hielt sich für immer noch stark genug, sich eine so deutliche Manipulation leisten zu können.

Sein letzter Fehler war die unbeschreibliche Gewalt, mit der er selbst völlig unbeteiligte Menschen von der Straße fegen und Gefangene misshandeln ließ. Das hat Lukaschenko für fast alle potenziellen Unterstützer, auch aus Russland, unmöglich gemacht. Offen ist, wie lange sein Sicherheitsapparat loyal bleibt. Es erscheint jedenfalls unvorstellbar, dass die Einsatzkräfte demnächst auf gestandene Traktorenbauer und Frauen, die ihnen Blumen bringen, einschlagen. Der Generalstreik ist für den Machthaber besonders bedrohlich. Wenn staatliche Betriebe stillstehen, werden sich bald auch jene von ihm abwenden, die an seinem System verdienen.

Drei Dinge machen den Protest in Belarus so besonders. Erstens: Die gesamte Gesellschaft demonstriert, über alle Schichten hinweg, in allen Regionen. Zweitens bleiben die Protestierenden betont friedlich, schließen auch die Polizei in ihre Umarmungen ein. Und es ist, drittens, bemerkenswert, wie schnell und mit welcher Begeisterung die Menschen eine nie gekannte Bewegungsfreiheit ausleben und die verbotene weiß-rot-weiße Fahne schwenken, einst das Symbol der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Europa-Fahnen sind keine zu sehen. Es geht den Demonstrierenden nicht um den Platz von Belarus in der Welt, sondern um ihre ganz individuelle Freiheit. Sie wollen frei und fair ihre Vertreter wählen. Ihre eigenen. Nicht die der EU. Nicht die Russlands.

Auch deswegen steht Alexander Lukaschenko nun ganz alleine da. Er hat Putin in den vergangenen Tagen alle möglichen Reizworte hingeworfen, um ihn zu einem Eingreifen zu bewegen. Er hat von Nato-Bewegungen an der belarussischen Grenze gefaselt und vor einer neuen "Farbrevolution" gewarnt - einer Revolution wie in Georgien und in der Ukraine, hinter denen der Kreml durch den Westen inszenierte Umstürze sieht, die Russland destabilisieren sollen. Aber Belarus ist auch in Putins Augen anders. Die Opposition dort ist nicht eindeutig antirussisch. Würde Putin sich auf Lukaschenkos Seite stellen, könnte sich das schnell ändern. Auf Lukaschenko kann Putin verzichten, auf seinen Einfluss in Belarus aber nicht.

Putin hat deshalb jetzt keine guten Optionen mehr. Er möchte Ruhe in Belarus, deswegen hat er Lukaschenko so lange gewähren lassen. Ihm zu Hilfe kommen kann er nun nicht mehr. Gemeinsam mit den Belarussen nach fairen Wahlen rufen kann er erst recht nicht und einfach zusehen ebenso wenig. Denn die Proteste zeigen, wie schnell aus einem resignierten Volk ein wütendes Volk werden kann. In Russlands fernem Osten werden aus Solidarität bereits weiß-rot-weiße Flaggen geschwenkt. Putin wird deshalb versuchen, Einfluss auf den Übergang zu nehmen, auf welche Weise auch immer.

Das ist ein Kampf, an den die Protestierenden noch nicht denken. Da demonstriert ein Volk, das 26 Jahre lang nicht sagen durfte, was es will. Das Ausland tut gut daran, diesem Volk jetzt zuzuhören, Gewalt zu verurteilen, Menschenrechte einzufordern. Und Hilfe anzubieten.

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Quelle:
SZ vom 18.08.2020
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