Süddeutsche Zeitung

Belarus:Ein Regime sieht weiß-rot-weiß

Die einstigen Nationalfarben dienen Demonstranten in Minsk als Symbol des Widerstands. Der Apparat von Machthaber Lukaschenko will die Kombination nun als "extremistisch" einstufen. Warum das die Chancen auf einen Kompromiss noch weiter zerstört.

Von Frank Nienhuysen, München

Die Kleiderpolizei kam von hinten und schnappte sich Ljubow Sarlai. Die Belarussin trug beim Spaziergang in Grodno eine graue Jogginghose, ins Auge stach den Beamten jedoch der weiß-rot-weiße Seitenstreifen. "Sie haben mir gleich gesagt, dass ich die Hose sicher nicht zufällig trage", erzählt Sarlai am Telefon. Dann führten sie die Frau in einen Bus und fuhren zur Polizei. Einen Tag musste Sarlai dort bleiben, dann erhielt sie eine Geldstrafe, weil sie die falsche Hose trug: 580 belarussische Rubel, etwa 180 Euro. "Ich habe die Jogginghose schon seit 2014", sagt Sarlai, "ich hätte nie gedacht, dass man die Streifen als politisch interpretieren könnte."

In Belarus eskaliert gerade eine Machtprobe zwischen Staat und Protestbewegung. Seit dem vorigen Frühjahr prägen die Farben Weiß und Rot die Massendemonstrationen im Land; sie sind zum Symbol des Widerstandes gegen Machthaber Alexander Lukaschenko geworden. Jetzt kündigte die Generalstaatsanwaltschaft an, die weiß-rot-weiße Flagge als "extremistisch" einzustufen. Damit hätte sie ein Instrument mehr, willkürlich gegen Demonstrierende vorzugehen. Denn die Farben sind überall zu sehen, nicht nur auf den Fahnen. Eine Frau demonstrierte im weißen Hochzeitskleid, auf das sie einen roten Streifen gesprüht hatte. Auf eine weiße Hausfassade malte jemand einen breiten roten Streifen, Auslagen in Geschäften wurden in Weiß und Rot dekoriert. In einer Petition haben bereits mehr als 100 000 Menschen gegen den Plan protestiert.

Die weiß-rot-weiße Flagge war 1918 in der kurzen Zeit der Unabhängigkeit die belarussische Nationalflagge gewesen. In der Sowjetzeit wurde die rot-grüne Flagge eingeführt. Nach dem Ende der UdSSR 1991 galt für einige Jahre wieder die alte weiß-rot-weiße Fahne als Nationalsymbol. Lukaschenko ließ sich damals mit ihr sogar vereidigen. 1995 wurde sie abgeschafft. Lukaschenko wollte damals die zunehmende Sowjetnostalgie nutzen. Seitdem verwendeten vor allem Lukaschenko-Gegner das weiß-rot-weiße Symbol - als Protest gegen die Rückkehr zum Kommunismus.

Minsk argumentiert, dass im Zweiten Weltkrieg die Farben Weiß-Rot-Weiß von Kollaborateuren verwendet wurden. Doch die Geschichte spielt nach Ansicht von Politologen derzeit keine Rolle. Artjom Schraibman sagt, dass die Staatsmacht mit der Einstufung der populären Fahne als extremistisch "einen weiteren Weg zu einem Kompromiss zerstört".

Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja sagte, "ein Verbot würde nichts in den Köpfen der Menschen ändern. Das Regime fürchtet sich vor der Kombination zweier Farben". Die Olympiateilnehmerin in Sportgymnastik, Melitina Stanjuta, fragte, ob jetzt Tomaten mit Mozzarella von den Speisekarten gestrichen würden. Und postete eine akrobatische Übung: mit knallrotem Sportdress im Schnee.

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