Der Machthaber eines Nicht-EU-Staates lässt ein Flugzeug, das zwischen zwei EU-Staaten verkehrt, unter obskuren Umständen zur Landung zwingen und daraufhin einen bekannten Regimekritiker unter den Passagieren verhaften. Was wie die Handlung eines mittelguten Filmes klingt, spielte sich am Sonntag über dem Luftraum von Belarus ab.
Mutmaßlich auf Befehl von Machthaber Alexander Lukaschenko musste eine Maschine der Fluglinie Ryanair auf dem Weg von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius kurz vor dem Überqueren der belarussich-litauischen Grenze umkehren und in Minsk landen. Belarussische Beamte nahmen den Blogger und Regimekritiker Roman Protassewitsch fest. Stunden später - nachdem das Flugzeug gründlich nach einer Bombe (die vermutlich nie existierte) durchsucht worden war, durfte die Maschine ihren eigentlich geplanten Weg fortsetzen. Ryanair ist eine Fluglinie aus Irland, somit ist ein drittes EU-Mitglied direkt betroffen.
Von Seiten der Europäischen Union, der Nato und auch der USA wird der Vorfall scharf kritisiert. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen spricht von einer "Entführung" und fordert eine unabhängige internationale Untersuchung. Gleiches verlangt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg - sowohl Litauen als auch Griechenland gehören dem Verteidigungsbündnis an. EU-Ratspräsident Charles Michel, der für die Organisation und den Ablauf eines am Montagabend beginnenden europäischen Gipfeltreffens zuständig ist, hat den Vorfall auf die Tagesordnung gesetzt und teilt mit: "Der Vorfall wird nicht ohne Konsequenzen bleiben." Dies deutet darauf hin, dass die EU weitere Strafmaßnahmen gegen "Europas letzte Diktatur" verhängt, wie Belarus immer wieder mal genannt wird.
Seit dem Herbst 2020 wurden in drei Schritten Sanktionen gegen das Land verhängt; ein viertes Maßnahmenpaket war bereits vor der erzwungenen Landung in Arbeit. Alle 27 EU-Staaten müssen Sanktionen zustimmen. Auslöser waren Präsidentschaftswahlen, die alle EU-Mitglieder ebenso wie die USA, Kanada und Großbritannien nicht anerkennen. Sie sind überzeugt, dass sie zugunsten des seit 1994 regierenden Lukaschenko manipuliert wurden. Die vermutliche Wahlsiegerin und Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja ist in die EU geflohen und lebt nun im litauischen Vilnius - genau wie bislang der nun festgesetzte Roman Protassewitsch. Dessen "unverzügliche Freilassung" forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montagmorgen. Die Verhaftung sei ein weiterer "krasser Versuch" des belarussischen Regimes, alle "Stimmen der Opposition" zum Schweigen zu bringen.
Bisher wurden Sanktionen gegen Dutzende Belarussen verhängt
Die Europäische Union hatte bereits 88 Personen und sieben Organisationen, die sie für den Wahlbetrug und das brutale Vorgehen gegen friedliche Demonstranten verantwortlich macht, mit Sanktionen belegt. Darunter sind Machthaber Alexander Lukaschenko, sein Sohn und nationaler Sicherheitsberater Viktor Lukaschenko sowie weitere Mitglieder der belarussischen Regierung, Amtsträger und hohe Beamte. Zu den Strafen gehören ein Reiseverbot in und auch die Durchreise durch die EU; zudem werden mögliche Vermögenswerte der benannten Personen in der EU eingefroren.
Richteten sich die bisherigen Strafmaßnahmen also gegen das Regime, gegen Lukaschenko und seinen engeren Kreis, könnten die EU-Staaten als Nächstes die Wirtschaft des ohnehin isolierten Landes stärker ins Auge fassen. Möglich wäre, dass in der EU gestartete Flugzeuge in Zukunft einen Bogen um Belarus machen - dies ist eine Maßnahme, die nach dem Vorfall vom Sonntag ohnehin einige Fluglinien in Betracht ziehen werden.
Des Weiteren wäre es möglich, dass der staatlichen belarussischen Airline Belavia Landerechte in der EU verweigert werden. Allerdings betonen EU-Diplomaten, dass die rechtliche Machbarkeit mancher Vorschläge noch nicht geprüft worden sei. Auch der ohnehin schon eingeschränkte Handel zwischen der EU und Belarus könnte weiter begrenzt werden. Davor schreckte die EU bisher zurück, um dem belarussischen Volk nicht zu schaden. Zudem könnte die EU eine internationale Untersuchung des Falles anstrengen. Ob das Lukaschenko-Regime dabei mitmacht, ist allerdings eher zu bezweifeln.
Neben Litauen, Estland, Lettland und Polen drängt aktuell auch Griechenland auf eine harte Reaktion und ein Zeichen der Geschlossenheit. Die mögliche Ausweitung der Sanktionen werden die Staats- und Regierungschefs am Montagabend beim stattfindenden EU-Gipfel diskutieren. Die eigentliche Ausarbeitung und der Beschluss der Strafmaßnahmen würde dann in den folgenden Tagen geschehen.