Krankenkassen:Sparen auf Kosten der Schwächsten

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Für Korbinian Lechleuthner ist der Sprachcomputer eine äußerst wichtige Hilfe. Aber schnellen Ersatz gibt es für ihn nicht. (Foto: privat)

Die Mutter eines schwerbehinderten Jungen kämpft seit Jahren dagegen, dass ihm die Krankenkasse medizinisch notwendige Hilfsmittel verweigert. Ein neues Gesetz sollte den Missstand beenden – doch dann platzte die Ampel.

Von Rainer Stadler

Vor fast acht Jahren kam Korbinian mit schwersten Hirnschäden zur Welt, er kann weder gehen noch hat er die Kraft, seinen Kopf gerade zu halten. Seine Verbindung zur Außenwelt: ein Sprachcomputer, den er mit den Augen steuert. Seine Eltern haben Videos aufgenommen, die zeigen, wie Korbinian auf dem Bildschirm Memory spielt. Seine Mutter sagt, er schaue damit auch Fernsehsendungen, kürzlich habe er sie mit Detailwissen zur Fotosynthese überrascht.

Kognitiv ist Korbinian voll da, sprechen kann er aber nicht. Seit Herbst geht er zur Schule, soll lesen und schreiben lernen. Dummerweise hat der Sprachcomputer gerade den Geist aufgegeben. Also beantragten seine Eltern bei ihrer Krankenkasse ein Ersatzgerät. Einen Tag später hatten sie die Antwort. Leider dürfe man „die Kosten für die beantragte Versorgung nicht übernehmen“, schrieb die Versicherung, weil „anhand der uns vorliegenden Unterlagen die Notwendigkeit für das beantragte Hilfsmittel nicht erkennbar“ sei.

Er schreibt, indem er Buchstaben auf dem Computer mit den Augen ansteuert

Carmen Lechleuthner, die Mutter, kann das nicht nachvollziehen. Die Krankenkasse habe ja das erste Gerät auch bezahlt, dessen Notwendigkeit also anerkannt. Als Schüler sei Korbinian erst recht auf den Computer angewiesen. Er lese damit Bücher, höre Audiobücher an, schreibe Texte, indem er mit den Augen Buchstaben und Zahlen auf dem Bildschirm ansteuert. Ihr Junge gehe gern zur Schule, sagt die Mutter, „man muss ihm doch ermöglichen, in unsere Welt reinzuwachsen“.

Aber sie hat in den vergangenen Jahren oft erlebt, dass die Versicherung Anträge für Hilfsmittel – sei es ein Rollstuhl oder ein spezieller Sitz fürs Auto – erst einmal abschmettert. Immer wieder hat sie sich gewehrt, mithilfe eines befreundeten Anwalts Widersprüche formuliert, Schriftsatz um Schriftsatz. Die Kasse forderte in der Regel ein Gutachten beim Medizinischen Dienst an, ob das Hilfsmittel tatsächlich notwendig sei, was den Prozess in die Länge zog. Monate oder sogar Jahre vergingen, bis Korbinian bekam, was ihm seine Ärzte längst verordnet hatten.

Für Carmen Lechleuthner, die als Anästhesistin arbeitet und gemeinsam mit ihrem Mann, einem Hausarzt, im oberbayerischen Pfaffenhofen noch drei weitere Kinder großzieht, ist dieses Gezerre eine einzige Zumutung. Weil sie weiß, dass es anderen Eltern mit schwerbehinderten Kindern genauso geht, brachte sie 2020 eine Petition auf den Weg. Mehr als 50 000 Unterschriften sammelten sie und einige Mitstreiter. Viele Verbände und Fachleute unterstützten ihre Forderung, dass Kassen die Kosten für verordnete Hilfsmittel ohne Prüfung übernehmen sollten. Auch in der Politik fand Carmen Lechleuthner Gehör. Corinna Rüffer von den Grünen hält die derzeitige Praxis für rechtswidrig und sieht einen Verstoß gegen die UN-Behindertenkonvention.

Das Warten ist zermürbend

Im Frühjahr 2024 sah es aus, als wäre damit bald Schluss. Das Bundesgesundheitsministerium kündigte eine Gesetzesänderung an, die Ergänzung von Paragraf 33 des Fünften Sozialgesetzbuchs um den Absatz 5c. Demnach soll ein Hilfsmittel künftig erforderlich sein, wenn es von einem Sozialpädiatrischen Zentrum oder medizinischen Behandlungszentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen verordnet wurde. Viele Prüfungen durch Kassen und Medizinischen Dienst würden damit entfallen. Doch bevor der Bundestag das neue Gesetz verabschieden konnte, platzte die Ampelkoalition. Ob und wann die Neuerung nun kommt, ist offen. Einstweilen „können die Kassen weitermachen wie bisher und die Versorgung hinauszögern“, klagt Carmen Lechleuthner.

Angehörige erleben das Warten auf Hilfsmittel als zermürbend, für Betroffene ist es mitunter gesundheits- und entwicklungsgefährdend. Lena Riepl erzählt, ihre Kasse habe den Spezialrollstuhl für ihre Tochter erst nach elf Monaten genehmigt. Die 14-jährige Elli leidet unter dem chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS. Sie ging noch zur Förderschule, als ihre Mutter einen Rollstuhl beantragte, der auch das Liegen ermöglicht sowie eine aufrechte Stehhaltung – was das Mädchen aus eigener Kraft nicht schafft. Nach fast einem Jahr Warten habe sich ihr Zustand so verschlechtert, dass ein Schulbesuch nicht mehr möglich sei. Lena Riepl ist überzeugt, dass es ihrer Tochter heute besser ginge, wenn die Kasse nicht blockiert hätte.

Das sehen auch Fachleute so. „Aus Verzögerungen oder qualitativ unzureichender Hilfsmittelversorgung können bei Kindern und Jugendlichen Befundverschlechterungen, Therapie- oder Entwicklungsverzögerungen und Einschränkungen der Teilhabemöglichkeiten entstehen“, schreibt Matthias Schmidt-Ohlemann in einer Expertise. Er ist Orthopäde und behandelt seit mehr als 30 Jahren Menschen mit Behinderungen.

Die Kassen stehen unter Druck zu sparen

Schmidt-Ohlemann kann ein Stück weit verstehen, warum sich die Kassen so verhalten. Wegen der gestiegenen Kosten stünden sie unter Druck zu sparen. Bei vielen Posten wie den Behandlungen im Krankenhaus oder den Ausgaben für Medikamente und Pflege hätten sie keine Handhabe. Die Antwort könne jedoch nicht sein, den Druck an die Schwächsten im System weiterzugeben, sagt Schmidt-Ohlemann. Zudem sei fraglich, ob es sich wirklich auszahle, Hilfsmittel zu verweigern. Die dazu erforderlichen Gutachten kosteten schließlich auch Geld. Und die Vergangenheit habe gezeigt: Wenn die Eltern hartnäckig bleiben und bereit sind, vor Gericht zu ziehen, lenken die Kassen am Ende doch ein.

Bis kurz vor Weihnachten gab es im Bundestag Versuche, die Gesetzesänderung zu den Hilfsmitteln doch noch abzusegnen. Die SPD-Politikerin Nezahat Baradari sagt, man habe „der Union und der FDP die Hand gereicht“, jedoch ohne Erfolg. Aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion scheiterte die Regelung daran, dass sie im Paket mit weiteren Änderungen des sogenannten Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes (GVSG) verabschiedet werden sollte. Man sei bereit gewesen, über das Gesetz zu verhandeln, teilt die CDU-Gesundheitspolitikerin Simone Borchardt mit. Die Regierung habe die Vorschläge jedoch nie aufgegriffen.

Die CSU-Politikerin Emmi Zeulner bemängelt, Gesundheitsminister Karl Lauterbach habe lieber die Cannabislegalisierung umgesetzt, als „sich auf offensichtliche Versorgungsprobleme zu konzentrieren“. Sie verspricht, die Union werde den erleichterten Zugang zu Hilfsmitteln „in den ersten hundert Tagen“ der neuen Regierung umsetzen.

Carmen Lechleuthner hat inzwischen die Enttäuschung über den Rückschlag verdaut und will weiter Druck machen in Berlin. Und auch auf ihre Versicherung: Beim nächsten Antrag für ein Hilfsmittel, sagt sie, werde sie den Widerspruch gegen die zu erwartende Ablehnung gleich mitschicken.

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