Sind die Fluchtbewegungen nach Europa derzeit überhaupt bemerkenswert groß?
In der jüngeren Geschichte haben wir gerade auch in Europa immer wieder große Migrationsbewegungen erlebt. Wir hatten nach dem Ersten Weltkrieg große Bewegungen. Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg - vor dem Hintergrund eines zerstörten Kontinents - riesige, zehmillionenfache Bewegungen, über Jahre hinweg, von Vertriebenen, Displaced Persons, ehemaligen Soldaten oder entlassenen Kriegsgefangenen. Dagegen ist das, was wir jetzt erleben, lächerlich.
Jochen Oltmer ist außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück. Sein Forschungsschwerpunkt ist die jüngere Migrationsgeschichte seit dem späten 18. Jahrhundert.
(Foto: oH)Und für sich genommen?
Dem UN-Flüchtlingskommissar zufolge haben wir im Moment global relativ viele Flüchtlingsbewegungen. 2014 waren demnach 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Aber 86 Prozent dieser Menschen werden in Ländern der sogenannten Dritten Welt aufgenommen. Nur ein kleiner Teil kommt in den reichen Norden. Zwei Drittel dieser 60 Millionen Menschen, also 40 Millionen Menschen, verlassen nicht einmal ihr Land, sondern weichen vor Gewalt innerhalb ihres Herkunftsstaates aus. Sie sind per Definition gar keine Flüchtlinge, sondern sogenannte Binnenvertriebene. Es gibt beispielsweise Syrer, die von einer Provinz in die nächste ziehen, immer auf der Flucht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen.
Wenn man die 20 Millionen Menschen, die 2014 Grenzen überschritten haben, im Kontext mit der Entwicklung der vergangenen 20 Jahre ansieht , dann wird deutlich, dass die Flüchtlingszahlen schon relativ hoch sind. Doch sie bewegen sich durchaus auf einem Level, das wir schon hatten, beispielsweise Anfang der 1990er Jahre. Spektakulär ist also vor allem die Zahl der Binnenvertriebenen - und die sind nicht in Europa zu finden.
Das heißt wir haben derzeit zwar relativ viele Flüchtlinge in Europa und Deutschland - im historischen Vergleich sticht ihre Zahl aber nicht besonders hervor?
Wir haben derzeit eine spezifische Konstellation in Europa. Es gibt einerseits Asylsuchende, die aus Europa selbst kommen, aus den Balkanstaaten. Andererseits gibt es Kriege und Krisen in mehreren Staaten, die quasi vor der Haustür Europas liegen, in Syrien, Afghanistan oder dem Irak. Hinzu kommt, dass das System des "Schutzes" vor Flüchtlingen als Folge der Finanzkrise in Europa zusammengebrochen ist. Staaten an den Außengrenzen sind nicht mehr bereit, die Lasten zu tragen oder können es auch nicht. Hinzu kommt, dass Flüchtlinge sich im Vorfeld der EU ungehinderter bewegen können. Nach dem Arabischen Frühling sitzt in Libyen eben nicht mehr ein Staatschef Gaddafi, der Flüchtlinge schon in der Sahara aufhält.
Daher verzeichnen wir derzeit eine verstärkte Zuwanderung. Doch langfristig betrachtet, wird deutlich, dass es immer Wellenbewegungen sind. Das geht mal auf - wie wir es zuletzt Anfang der 1990er Jahre oder davor Ende der 1960er Jahre erlebt haben -, mal ab.
Längerfristig betrachtet ist es also eine Welle, aber es ist ...
... keine Völkerwanderung. Der Begriff passt nicht - und er verstellt den Blick auf die realen und sehr unterschiedlichen Auswirkungen von Flucht und Migration. Beim Begriff der Völkerwanderung gibt es nichts, was auf Heterogenität, auf Vielfalt hinweist, was irgendwie positiv besetzt wäre. Und das kann Migration ja auch alles sein.