Bedeutungseinbruch der Neocons:"Die Ideen werden bleiben"

Leo Strauss hat es als Vordenker der Neokonservativen in den USA posthum zu düsterem Ruhm gebracht hat. Deren Niedergang wirft nun die Frage auf, ob der Philosoph nicht Opfer eines Missverständnisses wurde.

Sonja Zekri

Im Auge des Sturms duftet es nach Flieder. Wasserspeier fletschen die Zähne von neogotischen Fakultätshäusern. Efeu umspielt die Mauern.

Paul Wolfowitz

Zeichen des Bedeutungsverlusts der Neocons: Der Absturz von Weltbank-Präsident Paul Wolfowitz

(Foto: Foto: dpa)

Das Auge des Sturms ist die University of Chicago, denn hier, im Notre-Dame-haften Gebäude der Sozialwissenschaften, lehrte fast dreißig Jahre lang der Philosoph Leo Strauss, der es mit dem Irak-Krieg als Vordenker der Neokonservativen posthum zu düsterem Ruhm gebracht hat.

Strauss, der deutsche Jude, der 1932 seine Heimat verließ, 1938 mit einem Rockefeller-Stipendium nach Amerika kam und 1973 in Annapolis, Maryland, starb, gilt als Pate jener gut gemeinten, aber in der Konsequenz imperialen Weltbeglückungsbewegung, die Amerika ins irakische Debakel trieb und von den Erschütterungen inzwischen selbst hinweggefegt wird.

Es hätte des Falls von Paul Wolfowitz - Ex-Vize-Verteidigungsminister und Irakkriegstreiber - von der Spitze der Weltbank ins moralische Nirwana nicht bedurft, um den Bedeutungseinbruch der Neocons zu dokumentieren. In Scharen werden die Neocons von der Macht verdrängt wie UN-Botschafter John Bolton. Oder sie schwören ab.

Offenheit für Konservative

Als erster wandte sich vor zwei Jahren der Politologe Francis Fukuyama ab, der von Strauss, mehr aber noch bei dessen Schüler Alan Bloom lernte und mit seinem Buch vom "Ende der Geschichte" einen neokonservativen Grundsatztext vorgelegt hatte.

Andere folgten, zuletzt der Pentagon-Berater Richard Perle. "Die Neocons sind machtlos - um es vorsichtig auszudrücken", sagt John Mearsheimer, Politologe an der University of Chicago.

Aber wie wurde die University of Chicago zur Brutstätte neokonservativer Ideen? Weil die Hochschule nach dem Krieg einen exzellenten Ruf genoss, sagt Mearsheimer, und mit Robert Hutchins nicht nur einen Direktor mit Instinkt für Ausnahmedenker besaß, sondern konservativen Ideen gegenüber aufgeschlossener war als die liberalen Unis an der Ostküste.

"Harvard diskriminierte die Konservativen", sagt Mearsheimer, "Chicago war offener." Offener auch für Emigranten wie Hans Morgenthau, der Strauss nach Chicago brachte. Zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Milton Friedman mehrten die beiden "deutschen Titanen" den Ruhm der Hochschule.

Aber anders als Morgenthau und Friedman, die den Kontakt zum politischen Tagesgeschäft nicht scheuten, betrachtete Strauss die Nähe zur Politik als gefährlich für die Philosophie.

Immunisiert gegen triumphale Gesten

Ist der kleine unauffällige Deutsche, den Zeitgenossen als wenig charismatisch beschreiben, Opfer eines Missverständnisses? "Die meisten Neocons hatten gar keine Beziehung zu Strauss", so Mearsheimer: "Es gab keine Schriften zur Außenpolitik, aus denen sie hätten lernen können."

Strauss, der aus der Weimarer Republik ein tiefes Misstrauen gegenüber der Moderne nach Chicago mitgebracht hatte, weil er das Gemeinwesen durch Libertinage und Relativismus bedroht sah, war immunisiert gegen jede triumphale Geste, jede Befreiungseuphorie.

"Die Ideen werden bleiben"

Er war ein pessimistischer Zweifler, der sich am liebsten an der abendländischen Philosophie abarbeitete, an Thukydides, Xenophon, Plato, und wohl nie ein Wort zu Saddam verloren hätte.

Francis Fukuyama

Wandte sich als erster von Leo Strauss ab: Politikwissenschaftler Francis Fukuyama

(Foto: Foto: dpa)

"Ich glaube nicht, dass Strauss für den Irak-Krieg gewesen wäre", sagt Mearsheimer, und damit steht er nicht allein. Strauss' Verhältnis zu den Neocons, so scheint es, war nicht enger als jenes Rousseaus zu den Jakobinern oder Nietzsches zu den Nazis.

Intellektuelle Geiselnahme

Und in der Tat belegte Wolfowitz nur zwei Seminare bei Strauss, promovierte aber - ebenfalls in Chicago - bei dem Nuklearexperten Albert Wohlstetter, der den begrenzten Einsatz von Atomwaffen befürwortete.

Neocon-Hardliner Richard Perle, Elliot Abrams, Irving und Bill Kristol studierten zwar beim selbst erklärten Straussianer Harvey Mansfield, doch der hatte ja nicht einmal selbst bei Strauss gelernt.

War die Linie, die Publizisten von Strauss zur US-Sicherheitsdoktrin nach 9/11 zogen, tatsächlich nur eine intellektuelle Geiselnahme? Oder lassen sich Strauss Erwägungen zur Sprache der Philosophen nicht doch als Anleitung zur Täuschung lesen?

Philosophen, so Strauss, verfassen einen exoterischen Text für die Masse und einen esoterischen für jenen winzigen Zirkel Eingeweihter, die die Wahrheit vertragen. Wenn also die Massen mit Märchen von Massenvernichtungswaffen vernebelt werden, während der Kreis um den Präsidenten es besser weiß, so las man es vor vier Jahren, dann lieferte Strauss dafür das geistige Fundament.

Joseph Cropsey hat Strauss Mitte der vierziger Jahre kennen gelernt und Jahrzehnte mit ihm gearbeitet. Heute verwaltet er dessen literarischen Nachlass. Inzwischen ist er emeritiert und erkältet und nur telefonisch zu sprechen: "Alles Unsinn!", krächzt er: "Machiavelli konnte nicht frei reden, sonst hätte man ihn umgebracht. Man würde mit einem fanatischen Muslim auch nicht über Atheismus diskutieren. Strauss hat nie dafür plädiert, die Menschen zu belügen."

Keine eingerannten Türen

Und der Gedanke des elitären Zirkels der Macht? "Es würde wohl jeder zustimmen, dass es besser ist, von klugen Menschen regiert zu werden!" Wird er, Joseph Cropsey, heute zu Strauss befragt? - "Nein." - Aber auf dem Höhepunkt der Straussomanie haben die Studenten sicher gefragt? - "Auch nicht." - Bedauert er das? - "Es ist, wie es ist. Man kann es nicht ändern." Ende des Gesprächs.

Der Politiktheoretiker Nathan Tarcov ist einer der wenigen, der die Strauss'sche Lehre fortsetzt. Im vergangenen Herbst bot er zum ersten Mal ein Strauss-Seminar an. Aber zu sagen, dass ihm der Nachwuchs die Tür eingerannt hätte, wäre übertrieben. "Das Interesse an Strauss hat in den letzten 20 Jahren stark abgenommen", sagt Tarcov.

16 Studenten kamen, einer von ihnen war Scott Wang. "Freunde haben mich gefragt, ob Strauss so schlimm ist, wie alle sagen", sagt er. Dass die Neugier auf den umstrittenen Denker ihn reizte, gibt er zu, aber inzwischen ist er überzeugt: Strauss wurde falsch gedeutet.

Fast scheint es, als begrüßten die Straussianer den Niedergang der Neokonservativen, weil sich die Strauss-Rezeption endlich von den weltpolitischen Verunreinigungen befreien lässt. Fast.

"Die große Frage ist doch, was auf die Neokonservativen folgt?", sagt Tarcov. "Auch Barack Obama befürwortet die Verbreitung der Demokratie und notfalls den Einsatz von Waffen." Eines ist für ihn schon sicher: "Das Wort Neocon wird verschwinden, ihre Ideen nicht."

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