Am Anfang stand ein Versprechen. 2018 hatte der Bundestag mit großer Mehrheit zugesichert, Antisemitismus "entschlossen" bekämpfen zu wollen. Eine Zusage war das, hinter der sich alle Demokraten versammeln konnten. Was blieb, war die Frage, was daraus praktisch folgt. Ein gutes Jahr später, im Mai 2019, fasste der Bundestag erneut mit großer Mehrheit einen Beschluss, der zumindest eine der möglichen Antworten geben sollte. "Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen", ist dieser Beschluss überschrieben, der mit einiger Verzögerung enorme Wirkung entfaltet hat - allerdings nicht die beabsichtigte.
Als "unproduktiv und einer demokratischen Öffentlichkeit abträglich", geißelten ihn jüngst zahlreiche deutsche Kulturinstitutionen in der gemeinsamen Initiative "GG 5.3". Sie werben dafür, den Beschluss zu überdenken. Einer der Initiatoren, der Intendant der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, sagt zur Begründung, in der Praxis führe der Beschluss "zur Ausladung von Künstlern und Wissenschaftlern, die seit vielen Jahren in Deutschland gearbeitet haben, ohne dass ihre Arbeit gegen die Werte unseres Grundgesetzes verstößt". Weitere Kulturschaffende, unter ihnen die Schriftstellerin Eva Menasse, ergänzten das in einem offenen Brief mit der Klage, der Beschluss habe ein "repressives Klima erzeugt", deshalb sei er so problematisch.
Der Bundestag hält die BDS-Bewegung für antisemitisch
Worum es geht, ist der Umgang mit der propalästinensischen Bewegung "Boycott, Disinvestment, Sanctions" (BDS), die sich gegen die israelische Besatzungspolitik richtet und mit einer breit angelegten Boykottkampagne Druck ausüben will, ähnlich jener, die einst auch gegen das südafrikanische Apartheidregime angewandt wurde. Im Beschluss des Bundestags wurde das kritisiert. "Der allumfassende Boykottaufruf führt in seiner Radikalität zur Brandmarkung israelischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger jüdischen Glaubens als Ganzes. Dies ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen. Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch", stellte der Bundestag in seinem von CDU/CSU, SPD, FDP und Grünen getragenen Beschluss fest.
Der Bundestag rief die Bundesregierung darüber hinaus auf, "keine Organisationen finanziell zu fördern, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen". Gleiches sollte für Projekte gelten, "die zum Boykott Israels aufrufen oder die die BDS-Bewegung aktiv unterstützen". Länder, Städte, Gemeinden und "alle öffentlichen Akteurinnen und Akteure" wurden dazu aufgerufen, sich dieser Haltung anzuschließen. Mit einigem Erfolg - glaubt man jedenfalls den Initiatoren und Unterzeichnern der gegen den Beschluss gerichteten Aufrufe. Der FDP-Abgeordnete Frank Müller-Rosentritt dagegen nennt den Vorwurf, die Meinungsfreiheit werde durch den Beschluss eingeschränkt, "eine abenteuerliche Unterstellung". Müller-Rosentritt weiter: "Wer Israel das Existenzrecht absprechen will, kann das tun, aber bitte nicht mit deutschen Steuergeldern". Ähnlich argumentieren zahlreiche jüdische Organisationen. Allerdings verwahren sich die Kritiker des BDS-Beschlusses gegen den Vorwurf, dieses Ziel zu verfolgen.
Darüber, was die Entschließung ist und was nicht, sorgt nun eine der Süddeutschen Zeitung vorliegende Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestages für Klarheit. Als sogenannter "schlichter Parlamentsbeschluss" entfalte er keine rechtliche Bindungswirkung für andere Staatsorgane. Der Beschluss stelle nicht mehr als "eine politische Meinungsäußerung im Rahmen einer kontroversen Debatte dar". Durch den Beschluss würden "daher Kommunen nicht verpflichtet, Einzelpersonen oder Organisationen, die der BDS-Bewegung nahestehen und diese unterstützen, die Nutzung öffentlicher Räume zu untersagen".
Der Beschluss ist keine Richtschnur für die Exekutive
Wenn eine öffentliche Einrichtung BDS-Unterstützer ausschließen will, kann sie die Entschließung dem Gutachten zufolge nicht als Rechtsgrundlage heranziehen. Wohl aber könne sie bei Ermessensentscheidungen "im Rahmen der Abwägung" berücksichtigt werden. Den Abgeordneten war durchaus klar, dass sie eine Handlungsempfehlung aussprechen, mit ihrem Beschluss aber keine Rechtswirkung entfalten. Der Abgeordnete Müller-Rosentritt bezweifelt auch, dass viele Institutionen dem BDS-Beschluss gefolgt sind oder es damit sogar vorauseilend übertrieben haben könnten. Nach wie vor würden Veranstaltungen, "auf denen Israel massiv kritisiert wird, mit Steuergeldern finanziert", moniert er.
Allerdings wirft Müller-Rosentritt das der Bundesregierung auch vor. "Ich finde, dass die Regierung sich zu wenig um die Operationalisierung des Beschlusses gekümmert hat", sagt der FDP-Politiker. In der Jüdischen Allgemeinen äußerte sich der Vizechef der CDU/CSU-Fraktion, Thorsten Frei, ähnlich. Der Anwendungsbereich der Entschließung erstrecke sich zunächst zwar nur auf den Bundestag und seine Liegenschaften. "Wenn das Parlament durch Beschluss eine solche politische Entscheidung trifft, erachte ich diese auch als Richtschnur für die Exekutive", sagte er.
Dabei allerdings stieße sie nach Einschätzung des Wissenschaftlichen Diensts des Bundestages an verfassungsrechtliche Grenzen. Würde zum Beispiel ein Gesetz erlassen, das die Nutzung öffentlicher Räume oder Auftritte in mit öffentlichen Mitteln geförderten Veranstaltungen für Personen untersagt, denen eine Verfolgung von Zielen der BDS-Bewegung vorgeworfen wird, könne dies in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetzes eingreifen, heißt es in der Ausarbeitung. "Ein derartiges Gesetz wäre nicht mit dem Grundrecht auf Meinungsfreiheit zu vereinbaren und daher verfassungswidrig."
Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit geht sehr weit
An diese Grenze stoßen nach Auffassung der Bundestags-Juristen auch Gemeinden, die BDS-Sympathisanten Räumlichkeiten vorenthalten wollen. Zwar verstießen "auf antisemitischen Vorstellungen beruhende politische Konzepte wegen ihrer zweifelsfrei bestehenden Unvereinbarkeit mit der Menschenwürde gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung". Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasse aber eben "auch Äußerungen, die extremistisch, rassistisch oder antisemitisch sind".
Die Kritiker des Beschlusses wie Thomas Oberender sind darüber erleichtert. Sie sehen in der juristischen Bewertung des Wissenschaftlichen Diensts eine Unterstützung ihrer Linie. Oberender betont dabei, dass er wie die Unterstützer des Beschlusses die grundsätzliche Intention im Kampf gegen Antisemitismus teile. Zugleich seien "die Räume der Kultur und Wissenschaft für den demokratischen Diskurs von grundlegender Bedeutung". Deshalb müssten gerade bei der Diskussion von scharfen Konflikten "unterschiedliche Perspektiven" möglich bleiben, ohne "im Sinne einer Wut- und Klicklogik zu eskalieren". Darum gehe es und nicht um einen vermeintlichen Unterschied im Kampf gegen den Antisemitismus. "Im Grunde sitzen sich in diesen Debatten liberale Menschen gegenüber, die Verfassungspatrioten sind und das Existenzrecht Israels verteidigen", sagt Oberender.