Man tritt Danyal Bayaz sicher nicht zu nahe, wenn man ihn als ungewöhnlichen grünen Finanzminister bezeichnet. Der 40-Jährige war mal Unternehmensberater, hatte in den USA einen viel beachteten Auftritt als Rapper, in seinem Büro hängt ein Basketballkorb. Hinzu kommt, dass er sich nicht nur Gedanken über den baden-württembergischen Haushalt macht, sondern auch über die Zukunft seiner Partei. Er fordert unter anderem einen pragmatischeren Umgang bei der Migration.
SZ: Herr Bayaz, vor drei Jahren haben sich die Grünen noch Hoffnungen aufs Kanzleramt gemacht. Jetzt fragen sich viele, ob sie sich nicht zum Gespött machen würden, wenn sie erneut einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Sind die Grünen zurück in der Nische?
Danyal Bayaz: Ich hoffe nicht. Wir haben weiter die Ambition, eine Partei zu sein, der man das Land anvertrauen kann, ja, es auch zu führen. Aber natürlich sah nicht nur die Welt vor drei Jahren anders aus, auch die Lage meiner Partei hat sich verändert. Das Schwierige in der Politik ist ja: Vertrauen verliert man schnell, aber es ist ein ganz harter Weg, die Menschen wieder zu begeistern.
Wie hat sich Ihre Partei in diese Lage manövriert?
Der ständige Streit in der Bundesregierung wirkt sich negativ auf die Ampel-Partner aus. SPD und FDP leiden darunter noch mehr als die Grünen, aber das kann nicht unser Anspruch sein. Dazu kommen drei Dinge, die speziell meine Partei betreffen. Die Menschen haben weiter großes Interesse an einer Partei, die sich für den Klimaschutz starkmacht. Sie wollen aber zugleich, dass dabei niemand überfordert wird, dass Klimaschutz als gemeinsames Projekt mit den Bürgern und der Wirtschaft verstanden wird und wir nicht die Details bis in den Heizungskeller durchregulieren. Das ist die erste Lektion.
Und die anderen beiden?
Wir müssen uns beim schwierigen Thema Migration klarer positionieren. Nehmen Sie zum Beispiel das gemeinsame europäische Asylsystem: Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock hat einer Reform zugestimmt – die grünen EU-Abgeordneten waren aber dagegen. Dann dürfen wir uns nicht wundern, dass Grüne als uneindeutig wahrgenommen werden, wenn sie geschlossene Kompromisse wieder infrage stellen. Und, drittens, haben auch wir das Problem, dass sich viele Bürger von den Parteien entfremden. Da müssen wir reagieren. Ein Vorschlag mit Blick auf unsere soziokulturelle Homogenität als Partei könnte sein, zufällig ausgewählte Bürger bei der Entwicklung des Wahlprogramms zu beteiligen. Wir müssen stärker Perspektiven von außen zulassen.
Dass die Grünen die verbreiteten Sorgen bei der Migration besser mitdenken müssen, war auch eine Schlussfolgerung der Parteispitze nach der verheerenden Europawahl. Wie muss eine grüne Antwort auf die Probleme aussehen?
Es geht nicht darum, dass die Grünen am lautesten nach Law and Order rufen. Wir müssen zeigen, dass wir ein Thema, das für uns als Partei sicher schwierig ist, nicht mit spitzen Fingern anfassen. Wir sollten zunächst einmal ein klares Ziel formulieren: Es braucht mehr und schnellere Einwanderung von Fachkräften in den Arbeitsmarkt einerseits, andererseits muss irreguläre Migration eingedämmt werden, um die Aufnahme- und Integrationsfähigkeit vor Ort zu gewährleisten. Anzuerkennen, dass es da ein großes Problem gibt, wäre ja schon mal das Signal an die Bevölkerung: Wir haben verstanden!
Verständnis allein dürfte nicht reichen.
Wenn Vorschläge auf den Tisch kommen, sollte unsere erste Reaktion nicht die reflexhafte Suche nach Gründen sein, warum das nicht geht. Die Bezahlkarte, Grenzkontrollen, die Debatte um sichere Herkunftsländer – da tendieren wir als Partei dazu, alles gleich pauschal zurückzuweisen. Es würde uns gut zu Gesicht stehen, zu sagen: Lasst uns das ernsthaft prüfen. Eine Bezahlkarte zum Beispiel ist keine humanitäre Zumutung.
Probleme haben die Grünen nicht nur bei der Migrationspolitik, sondern auch dem Klimaschutz, der seit der Gründung im Zentrum der Partei steht. Doch gefühlt dringen Sie mit dem Thema nicht mehr durch. Woran liegt das?
Der Klimaschutz ist in den Hintergrund gerückt. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Aber die Erderwärmung gibt es ja trotzdem – und damit auch die Notwendigkeit, das Klima und damit ja auch uns selbst zu schützen. Das wäre übrigens auch so, wenn es die Grünen nicht mehr geben würde. Die Frage lautet: Wie kommt Klimaschutz wieder in die Offensive?
Wie lautet Ihre Antwort?
Früher war Klimaschutz abstrakt, jetzt hat er ein Preisschild erhalten, denken Sie an das Heizungsgesetz. Ganz ohne Zumutungen geht es nicht. Und es ist eine Stärke der Grünen, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Wir müssen uns überlegen: Macht man es mit einer gewissen Krisenrhetorik? Oder verbindet man es mit einer positiven Erzählung von Zukunft auf Basis marktwirtschaftlicher Instrumente wie einem CO₂-Preis und Anreizen zur Mobilisierung von Kapital. Das wäre mein Ansatz: Liebe Leute, der Weg zur Klimaneutralität und zur Modernisierung der Wirtschaft ist mit Kosten und Veränderungen verbunden, aber er lohnt sich für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für unseren Planeten.
In Baden-Württemberg haben die Grünen mit dem ultrapragmatischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann ihre bislang größten Erfolge gefeiert. Warum hat der Mann eigentlich bundespolitisch in Ihrer Partei nie eine große Rolle gespielt?
Ganz so ist es nicht: Winfried Kretschmanns Amtsverständnis war immer, Landes- vor Parteiinteressen zu stellen. Und ich finde, dass sich Robert Habeck stark an diesem Ansatz orientiert. Das kann uns Grünen nur guttun.
Kritiker würden sicher einwenden, dass zwar die Wahlerfolge für Kretschmann sprechen, aber nicht unbedingt seine Klima-Bilanz. Die eigenen Klimaziele werden nicht erreicht. Was sendet das für ein Signal?
Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass da eine Partei an die Regierung kommt und in wenigen Jahren ein Industrieland komplett umkrempelt. So einfach ist Politik nicht. Der neue gesellschaftliche Großkonflikt kreist um die Pole Veränderungsnotwendigkeit und Veränderungsbereitschaft. Und unsere Aufgabe ist es, das auszubalancieren. Da haben wir im Land viel erreicht. Nehmen Sie nur die Planungsprozesse für Windräder, die haben wir massiv verkürzt, dazu gibt es im Land einen Photovoltaik-Boom.
Kretschmann steht wie kein anderer Grüner für die Verbindung von Grünen und Konservativen. Doch gerade gibt es Zweifel an der Zukunftsfähigkeit der Koalition. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann findet, mit diesen Grünen könne man nicht regieren. Welche Perspektive geben Sie einem Bündnis mit der Union?
Carsten Linnemann und einige andere haben aber offenbar kein Problem damit, mit den Putin-Freunden und Nato-Gegnern um Sahra Wagenknecht zu koalieren. Da kann ich nur dringend raten, mal den Kompass zu justieren. Grundsätzlich sollten wir aufhören, Koalitionen zu romantisieren. Schwarz-Rot hat sich als vermeintlicher Stabilitätsanker verstanden. Dann kam die Ampel als selbsternanntes Fortschrittsbündnis. Und Schwarz-Grün soll für manche die Versöhnung des Bürgertums mit der Ökologie sein, das sind ja die Storys.
In den Erinnerungen von Wolfgang Schäuble stand der Satz: Demokratie ist eine Zumutung, ist anstrengend. Also sind auch Koalitionen anstrengend. Bei der Unterstützung für die Ukraine zum Beispiel hat die CDU sehr große Übereinstimmungen mit uns Grünen. Und es wäre eine echte Chance, soziale Marktwirtschaft und Ökologie in einen kohärenten Politikansatz zu bringen. Das hat die Ampel leider nie vollzogen.
Sie hätten also nichts dagegen, das Bündnis auch in Baden-Württemberg weiterzuführen?
Die acht Jahre Grün-Schwarz haben Baden-Württemberg gutgetan. Es gibt keinen Grund, erfolgreiche Regierungen zu beenden.
Was sicher enden wird, ist die Ära Kretschmann. Muss der Nachfolger Kretschmann imitieren, oder ist es Zeit für etwas Neues?
Reinhard Bütikofer hat mal gesagt, man müsse Kretschmann kapieren, nicht kopieren. Wo muss man Kretschmann kapieren? In seinem Amtsverständnis, Land vor Partei, da braucht es auf jeden Fall Kontinuität. Und es braucht eine Person, die für Erfahrung, Orientierung und charakterliche Integrität steht.
Wo braucht es Aufbruch? Wir stehen vor wirtschaftlichen Herausforderungen. Baden-Württemberg hat keinen Rechtsanspruch darauf, dass es auch in Zukunft immer mehr Autos verkaufen kann und damit erfolgreich sein wird. Kretschmann hat viel angestoßen, die Forschungslandschaft gefördert, die Zentren für künstliche Intelligenz, Quantentechnologie und Gesundheitswirtschaft. Um das fortzuführen, muss jemand eine gewisse Weltgewandtheit mitbringen und auch in Brüssel baden-württembergische Interessen vertreten können.
Diese Stellenbeschreibung trifft nahezu idealtypisch auf Ihren Parteifreund Cem Özdemir zu, auf dem sämtliche Hoffnungen der Südwest-Grünen ruhen. Kann er den aus Grünen-Sicht negativen Trend brechen?
Ich traue Cem Özdemir sehr viel zu, wobei ich da sicherlich nicht objektiv bin.
Özdemir war Ihr Trauzeuge …
Ja, wir kennen uns sehr lange, deshalb wird es Sie nicht überraschen, dass ich ihn für einen integren Charakter halte. Er hat bei den Themen Migration und Integration ganz klare Vorstellungen, und die hat er immer formuliert, egal ob es um türkisch-nationalistische Rocker, Rechtsextreme oder muslimischen Antisemitismus ging. Sollte er antreten, wäre das nicht nur ein sehr starkes Angebot an unsere Partei, sondern viel wichtiger an das Land Baden-Württemberg.
Dieter Salomon, der frühere grüne Freiburger OB, hat soeben Zweifel an Özdemirs Chancen geäußert, vor allem wegen dessen türkischen Wurzeln. Wie blicken Sie auf diese Einschätzung?
Das Baden-Württemberg, das ich kenne, fragt nicht danach, wo man herkommt, sondern wo man hin möchte. Da sind wir weiter, als Herr Salomon denkt.
Bei der Landtagswahl 2026 können die Grünen entweder ihre Sonderrolle zementieren – oder mit ansehen, wie die CDU das Erbe Kretschmanns übernimmt. Welche historische Bedeutung hat die Wahl für Ihre Partei?
Ich halte wenig von historischer Überhöhung einer Landtagswahl. Dass wir für pragmatische Politik stehen, dass wir die Breite der Bevölkerung und die Wirtschaft ansprechen – all das ist tief in unserer DNA im Land drin, deswegen bin ich in dieser Partei. Wichtig ist, dass das Land demokratisch aus der Mitte heraus regiert wird. Deswegen ist es auch kein Weltuntergang, wenn es einen Wechsel von Regierungen gibt. Solange keine extremen Kräfte an die Macht kommen, geht es irgendwie weiter. Aber wir Grüne haben noch was vor in Baden-Württemberg.