Etwa 170 Millionen Menschen leben in Bangladesch auf einer Fläche, die etwa 40 Prozent von Deutschland ausmacht. Sie werden jedes Jahr von immer heftigeren Starkregen genauso heimgesucht wie von längeren Hitzewellen. Und auch in den vergangenen Wochen, in denen die Proteste das Land in Atem hielten, stieg der Stromverbrauch um sieben Prozent, wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete; und das, obwohl die Industrie teilweise zum Stillstand gekommen war. Der Grund: die Menschen blieben zu Hause und drehten ihre Klimaanlagen auf.
„Die Stromnachfrage in Bangladesch wird trotz der politischen Unbeständigkeit weiter steigen, da sie in erster Linie von den Privathaushalten getragen wird“, sagte Shafiqul Alam, leitender Energieanalyst beim Institute for Energy Economics and Financial Analysis gegenüber Reuters. Es ist kaum aushaltbar, ohne Klimaanlage in Bangladesch zu leben. Alleine im April waren 15 Menschen an Überhitzung gestorben.
Inflation und hohe Arbeitslosigkeit waren Treiber der Proteste
Der private Stromverbrauch ist allerdings auch ein Indikator dafür, wie es mit dem Land weitergehen könnte. Denn steigende Preise, Inflation und hohe Arbeitslosigkeit waren unter anderem Treiber der Proteste der vergangenen Wochen gewesen, in denen mehr als 300 Menschen ums Leben kamen und von denen schließlich die Premierministerin, Sheikh Hasina, in die Flucht getrieben wurde.
Hasina hat bis auf Weiteres Asyl in Indien gefunden, doch auch nach ihrer Flucht gingen die Unruhen weiter. Die Polizei, die in den Wochen vor Hasinas Flucht hart gegen die Demonstranten vorgegangen war, wurde in den vergangenen Tagen attackiert; Dutzende Beamte wurden getötet, Waffen und Munition gestohlen, wie lokale Medien berichteten. Die meisten Polizeistationen in Bangladesch blieben tagelang unbesetzt. Das Militär gab Hotline-Nummern für Hilfesuchende bekannt.
Bewaffnete Jugendliche überwachen die Preise auf den Märkten
Fernsehbilder aus Dhaka zeigten mit Stöcken bewaffnete Jugendliche, die den Verkehr an Kontrollpunkten regelten und Fahrzeuge überprüften. Sie waren auch auf den Märkten unterwegs, um die Preise für Lebensmittel zu überwachen, die angeblich stark gestiegen waren. Neben Vandalismus und Plünderungen kam es zu Angriffen auf Minderheiten. Vor allem Hindus wurden Opfer von Attacken. Sie machen etwa acht Prozent der Einwohner des mehrheitlich muslimischen Bangladesch aus.
Die Mehrheit der Hindus haben in der Vergangenheit Hasinas Awami-Partei unterstützt. Human Rights Watch erklärte, die neue Regierung müsse gegen die Gesetzlosigkeit vorgehen. „Es ist von entscheidender Bedeutung, unverzüglich die öffentliche Ordnung wiederherzustellen und gefährdete Gemeinschaften, einschließlich Hindu-Minderheiten, die angegriffen wurden, zu schützen“, sagte Meenakshi Ganguly, die stellvertretende Asien-Direktorin der Menschenrechtsorganisation.
Massive Migration, weil die Jobs fehlen
All das sind jetzt Probleme, mit denen sich Muhammad Yunus, 84, Friedensnobelpreisträger und Wirtschaftsexperte, auseinandersetzen muss. Auf ihn als Übergangsregierungschef hatten sich die protestierenden Studenten und das Militär einigen können. „Mein erstes Wort an Sie ist, schützen sie das Land vor Unruhen. Schützen Sie es vor Gewalt, damit wir dem Weg folgen können, den unsere Studenten uns gezeigt haben“, sagte Yunus bei seiner Landung am Flughafen von Dhaka Ende der vergangenen Woche. Er bezeichnete die Menschen in Bangladesch als „eine große Familie.“ Die jungen Demonstranten hätten dem Land eine „neue Geburt“ geschenkt.
Im benachbarten Indien, das Sheikh Hasina stets unterstützt hat, fürchtet man, dass Bangladesch noch instabiler werden könnte. Bereits jetzt kommt es zu massiven Migrationsbewegungen, auch weil das Land unter hoher Arbeitslosigkeit leidet. Die komplexen strategischen Beziehungen zu Indien und den USA werden das Regieren für Yunus nicht einfacher machen. Einem Bericht der Economic Times of India zufolge beschuldigte Hasina die USA, bei ihrer Absetzung eine Rolle gespielt zu haben. Das war wohl eher ein Gerücht, aber es gibt in Bangladesch ein gewachsenes Misstrauen gegenüber den USA, die sich 1971 im blutigen Trennungskrieg auf die Seite von Pakistan schlugen, wohingegen Indien zu Bangladesch hielt.
„Jegliche Berichte oder Gerüchte, dass die Regierung der Vereinigten Staaten in die Ereignisse verwickelt war, sind schlichtweg falsch“, sagte Karine Jean-Pierre, die Sprecherin des Weißen Hauses, bei einer Pressekonferenz am Dienstag, als sie zu den Berichten befragt wurde. Hasinas Sohn Sajeeb Wazed Joy, der in den USA lebt und als Berater seiner Mutter fungiert, erklärte hingegen in den sozialen Medien, dass seine Familie und die Awami-Partei sich weiterhin in der Politik Bangladeschs engagieren wollen. Und in einem Gespräch mit der Tageszeitung Times of India sagte Joy über seine Mutter: „Sie wird nach Bangladesch zurückkehren, sobald die Übergangsregierung beschließt, Wahlen abzuhalten.“