Die Straßen von Dhaka waren am Samstag und Sonntag fast leer: Die Regierung erließ eine fast durchgängige Ausgangssperre, durch die Hauptstadt von Bangladesch patrouillierten Soldaten. Nachdem die Studentendemonstrationen gegen Quoten an Universitäten und im öffentlichen Dienst eskaliert waren, sind in der vergangenen Woche mindestens 114 Menschen getötet worden, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet. Das Auswärtige Amt in Berlin rät von Reisen in das südostasiatische Land derzeit ab.
Am Sonntag zeigten die seit Anfang Juli anhaltenden massiven Proteste ihre Wirkung: Das höchste Gericht in Dhaka drehte die Wiedereinführung der kontroversen Quotenregelung im öffentlichen Dienst teilweise zurück. Die bis 2018 geltende Regel hatte vor allem Anhängern der regierenden Awami-Liga genützt, denn sie reservierte mehr als die Hälfte der Stellen im öffentlichen Dienst für bestimmte Gruppen – allein 30 Prozent für Nachkommen von Soldaten, die 1971 für die Unabhängigkeit des Landes kämpften, weitere Stellen für Frauen und Menschen aus armen Gebieten. Tausende Studierende fordern dagegen ein System, das auf Leistung setzt.
Am Dienstag wurden die Universitäten geschlossen, von Donnerstag an das mobile Internet in großen Teilen von Bangladesch blockiert, Internet- und Messengerdienste funktionierten nicht mehr, das Land war von der Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Wichtige Regierungswebsites, darunter die der Zentralbank, der Polizei und des Büros des Premierministers, wurden trotzdem von einer Hackergruppe infiltriert, die sich „The R3sistance3“ nennt. In einer Nachricht, die am Freitag auf der Website des Büros der Premierministerin veröffentlicht wurde, forderten die Hacker ein Ende der Gewalt: „Es ist kein Protest mehr. Es ist jetzt ein Krieg.“
Wie die Deutsche Presse-Agentur am Sonntag unter Berufung auf den Sender BBC Bangla berichtete, sollen von sofort an 93 Prozent der Einstellungen auf der Grundlage von Leistung erfolgen, entschied das höchste Gericht am Sonntag. Es folgte damit zumindest teilweise der Forderung der Protestierenden. Lediglich die restlichen sieben Prozent würden unter eine Quotenregelung kommen und vorwiegend für Nachkommen von Soldaten, die 1971 für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft haben, reserviert sein, entschieden die Richter.
Die Proteste hatten das Land tagelang in Atem gehalten. In Narsingdi, einem zentralen Bezirk von Dhaka, stürmten Demonstranten Medienberichten zufolge am Freitag ein Gefängnis und befreiten über 850 Insassen, bevor sie die Einrichtung in Brand setzten. Seit Freitagabend besteht eine landesweite Ausgangssperre.

Nach Angaben von Krankenhäusern in ganz Bangladesch gab es bei den Zusammenstößen nicht nur Tote, sondern auch Tausende Verletzte. Im Dhaka Medical College Hospital wurden am Freitag zwischen 17 und 19 Uhr Ortszeit allein 27 Leichen eingeliefert, wie Reuters berichtet. Die Polizei war seit Anfang vergangener Woche mit Tränengas gegen die Studenten vorgegangen, und nachdem Premierministerin Sheikh Hasina, 77, die Lage nicht deeskalieren konnte oder wollte, warfen die Protestierenden Ziegelsteine und zündeten Fahrzeuge an.
Die Premierministerin bezeichnete die Demonstrierenden als „Kollaborateure“
Sheikh Hasina hatte die Forderungen der Demonstranten nach einer Abschaffung der Quote für Angehörige ehemaliger Freiheitskämpfer zunächst abgelehnt, von der viele Mitglieder ihrer Partei profitieren. Sie verwies darauf, dass der Oberste Gerichtshof am 7. August ein Urteil in dieser Sache sprechen werde. Die Demonstranten bezeichnete sie als „Razakar“, als Kollaborateure, eine schwere Beleidigung in Bangladesch, die noch aus Zeiten des Unabhängigkeitskriegs stammt, genau wie die umstrittene Quotenregelung.
Bangladesch löste sich 1971 in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg von Pakistan, Millionen Menschen wurden getötet und vergewaltigt. Als Razakar bezeichnete man diejenigen, die damals Mitbürger an die pakistanische Armee verrieten. Sheikh Hasina ist die Tochter von Sheikh Mujibur Rahman, der die Freiheitsbewegung anführte und als Gründervater von Bangladesch gilt. Sie regiert Bangladesch seit 2009 ununterbrochen, war als Verteidigerin der Demokratie angetreten – mit den Jahren wurde sie allerdings immer autoritärer. Erst im Januar dieses Jahres wurde Sheikh Hasina wieder in ihrem Amt bestätigt, in einer Wahl, die so massiv zu ihren Gunsten manipuliert worden war, dass die Opposition zum Boykott aufrief.
Es gibt in Bangladesch mehr als 30 Millionen Arbeitslose bei 170 Millionen Einwohnern. Der Privatsektor baut Stellen ab, umso begehrter sind Posten beim Staat, die mit jener Quote belegt sind, gegen die nun so heftig protestiert wird.
Verschiedene Fernsehsender berichteten am Wochenende, dass die Ausgangssperre am Samstag für zwei Stunden gelockert wurde, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, einzukaufen oder andere Dinge zu erledigen. Diejenigen, die sich auf die Straße wagten, wurden an Kontrollpunkten von Soldaten kontrolliert. Aus dem Nachbarland Indien wurde gemeldet, dass seit Beginn der Gewalt fast 1000 indische Studenten nach Hause zurückgekehrt seien.
Sheikh Hasina sagte ihre für Sonntag geplante Reise nach Spanien und Brasilien wegen der Proteste ab, berichtete ihr Pressesprecher. Die Regierung erklärte Sonntag und Montag aufgrund der Lage im Land zu „Feiertagen“, an denen nur Notdienste arbeiten dürfen. Internationale Rechtsgruppen haben die Internetsperre und das Vorgehen der Sicherheitskräfte kritisiert. Die Europäische Union erklärte, sie sei tief besorgt über die Gewalt und den Verlust von Menschenleben.