Sheikh Hasina, die Premierministerin von Bangladesch, ist am Montag zurückgetreten und aus dem Land geflohen. Armeechef General Waker-us-Zaman sagte in einer Fernsehansprache, dass Hasina, 76, das Land verlassen habe und eine Übergangsregierung gebildet werde. Gemeinsam mit ihrer Schwester war Hasina am Montagnachmittag in Agartala, der Hauptstadt des nordöstlichen indischen Bundesstaates Tripura, gelandet, wie der Fernsehsender CNN News 18 berichtete.
Auf den Straßen der Hauptstadt Dhaka feierten derweil die Studenten, die trotz einer Ausgangssperre und Militär- sowie Polizeipatrouillen zu weiterem Protest aufgerufen hatten. Dutzende Menschen sollen am Montag getötet worden sein, erst am Sonntag waren 91 Personen ums Leben gekommen, seit Beginn der Proteste sind mehr als 300 gestorben. Tausende stürmten am Montagnachmittag auch Hasinas Amtssitz, drängten sich in den Salons zusammen und trugen Fernsehgeräte, Stühle und Tische aus einem der am besten geschützten Gebäude des Landes. Einige Demonstranten kletterten auf eine große Statue des Freiheitskämpfers Sheikh Mujibur Rahman, Hasinas Vater, und begannen, den Kopf mit einer Axt zu bearbeiten.
Züge, Autos, Fabriken – alles sollte stillstehen
Ursprünglich ging es den Studenten nur um die Abschaffung eines Quotensystems, das den Familien von Freiheitskämpfern sichere Jobs und Studienplätze garantiert. Doch am Wochenende weiteten sich die Proteste zu einer Kampagne aus, in der der Rücktritt von Sheikh Hasina gefordert wurde. Die hatte sich erst im Januar zu einer vierten Amtszeit wählen lassen – in einer international kritisierten und von der Opposition boykottierten Wahl. Hasina regiert Bangladesch mit seinen etwa 170 Millionen Einwohnern seit 20 Jahren.
Ab Montag sollte das Land eigentlich stillstehen, es wurde ein Feiertag ausgerufen. Die Bangladesh Railway teilte mit, dass sie wegen der eskalierenden Gewalt alle Zugverbindungen auf unbestimmte Zeit eingestellt habe. Auf den Straßen in Dhaka waren keine Autos mehr zu sehen, auch die Bekleidungsfabriken des Landes, die einige der größten Weltmarken beliefern, wurden auf unbestimmte Zeit geschlossen. Das Militär forderte die Bevölkerung auf, sich an die Ausgangssperre zu halten, die zum Schutz von Menschenleben, Eigentum und wichtigen staatlichen Einrichtungen verhängt worden sei.
Am Wochenende war es zu Anschlägen und zu Brandstiftung an Regierungsgebäuden, Polizeistationen, Häusern von Abgeordneten und Büros der regierenden Awami-Liga von Hasina gekommen. „Die Armee von Bangladesch wird ihre versprochene Aufgabe im Einklang mit der Verfassung von Bangladesch und den bestehenden Gesetzen des Landes erfüllen“, hieß es in einer Erklärung am späten Sonntag. Es ist anzunehmen, dass die Armee die Macht für eine begrenzte Zeit übernehmen wird.
Das Militär von Bangladesch ist international geschult
Eine Gruppe pensionierter Offiziere hatte Hasina am Sonntag aufgefordert, die Truppen von den Straßen abzuziehen und „politische Initiativen“ zur Lösung der Krise zu ergreifen. Nun wollen die Generäle eine Übergangsregierung installieren, die aus unabhängigen Experten bestehen soll. Das Militär von Bangladesch ist nach seinen Einsätzen für die Vereinten Nationen professionell geschult und möchte dringend vermeiden, sich international ins Abseits zu stellen, anders als etwa die Junta im benachbarten Myanmar.
Um die Eskalation nachvollziehen zu können, muss man die Quote für Freiheitskämpfer und deren Nachkommen verstehen. Freiheitskämpfer wie Sheikh Hasinas Vater sind wichtige Figuren in der Geschichte Bangladeschs. Sie kämpften 1971 in einem blutigen Trennungskrieg gegen Pakistan. Die Erinnerung an diese Zeit überlagert in Bangladesch die brutale Teilung von Britisch-Indien im Jahr 1947, aus der Indien und Pakistan – inklusive des abgelegenen Ostpakistans, das später zu Bangladesch werden sollte – überhaupt erst hervorgingen.
Hunderttausende Bengalen wurden in diesem Trennungskrieg systematisch von der pakistanischen Armee und propakistanischen Milizen getötet, gefoltert und vergewaltigt, die Angaben schwanken zwischen 300 000 und bis zu drei Millionen Opfern. Bengalische Milizen, die mit der pakistanischen Armee zusammenarbeiteten und bis heute als Kollaborateure verhasst sind, werden in Bangladesch seitdem als Razakars bezeichnet. Ebenjenen Begriff wendete Sheikh Hasina bei einer Pressekonferenz am 14. Juli auf die Protestierenden an.
Eigentlich eine schwere Beleidigung, doch Tausende Protestierende änderten daraufhin ihre Nutzernamen in den sozialen Netzwerken in „Razakar“, um die Schmährhetorik zu konterkarieren. Hasina hatte unterschätzt, wie fundamental sie selbst mittlerweile abgelehnt wird. Die Älteren im Land entsetzt die sorglose Verwendung des Begriffs, die Jungen aber signalisieren mit der verbalen Aneignung auch, dass sie das restriktive Erbe des Befreiungskriegs hinter sich lassen wollen. Die Massenarbeitslosigkeit im Land hat die Job- und Studienplatzquote für sie zur Existenzfrage gemacht.
Ursprünglich waren einmal zehn Prozent der öffentlichen Stellen für Nachkommen von Freiheitskämpfern reserviert. 2018 wurde diese Quote von der Hasina-Regierung abgeschafft – um in diesem Juni laut Beschluss des Obersten Gerichts auf 30 Prozent erhöht zu werden. Das hatte die Proteste ausgelöst. Erst als die Gewalt eskalierte, senkte das Gericht sie wieder auf fünf Prozent. Doch da war es schon zu spät, die Proteste ließen sich nicht mehr einfangen.
„Diejenigen, die Gewalt ausüben, sind keine Studenten, sondern Terroristen, die darauf aus sind, die Nation zu destabilisieren“, sagte Sheikh Hasina noch am Sonntag. „Ich appelliere an unsere Landsleute, diese Terroristen mit starker Hand zu unterdrücken.“ Menschenrechtsorganisationen werfen ihrer Regierung übertriebene Härte gegen die Protestierenden vor. Nun scheint es so zu sein, dass Hasina nach Indien geflohen ist, bevor diese Härte auf sie selbst zurückfallen kann. Vielleicht kann das Land so wieder zur Ruhe kommen.
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