Bangladesch:„Jetzt fangen wir noch mal von vorn an“

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Obenauf: Demonstranten mit Bangladesch-Flaggen am Montag auf der Residenz der geflohenen Regierungschefin Sheikh Hasina. (Foto: K M ASAD/AFP)

Nach der Flucht von Ministerpräsidentin Hasina will die Armee eine Übergangsregierung mit einem Friedensnobelpreisträger als Staatschef bilden. Der bezeichnet den Montag als „zweiten Tag der Befreiung“.

Von David Pfeifer, Bangkok

Die Textilfabriken in Bangladesch sind wieder geöffnet, auch die Büros der großen Im- und Exportfirmen in Dhaka. Das Internet funktioniert, die Busse fahren, die Menschen gehen normal zur Arbeit. Und das schon am Tag eins, nachdem Ministerpräsidentin Sheikh Hasina zurückgetreten und in einem Helikopter nach Indien geflohen ist. „Wir müssen jetzt Überstunden machen, um die verlorene Zeit wieder einzuholen. Denn das, was ihr in Deutschland an Weihnachten kauft und verschenkt, wird gerade jetzt bei uns produziert und verschickt“, erklärt ein Textilexporteur aus Dhaka am Telefon unter Zusicherung von Anonymität.

Es war eine logische erste Maßnahme der Generäle, die Ausgangssperre aufzuheben, die Häfen und Zollämter wieder zu öffnen und der 40 Milliarden US-Dollar schweren Textilindustrie in Bangladesch die Arbeit zu ermöglichen. „Sonst würden Aufträge storniert und wir hätten riesige Verluste, was die Katastrophe nur noch vergrößern würde“, wie der Unternehmer aus Dhaka sagt. Fast jeder zweite Einwohner von Bangladesch ist in der Landwirtschaft beschäftigt, doch die Textilherstellung ist der größte Industriezweig, und der einzige, in dem höhere Löhne bezahlt werden. Es waren vor allem der Beschäftigungsrückgang in der Textilbranche und die Inflation, die die überwiegend jungen Demonstranten auf die Straße getrieben hatten. In Bangladesch wird ihr Aufstand als Gen-Z-Protest beschrieben.

Die Flughäfen bleiben bis auf Weiteres geschlossen

Bereits im Juni begannen Studierende gegen ein Quotensystem zu demonstrieren, das Nachkommen von Freiheitskämpfern aus dem Unabhängigkeitskrieg von Pakistan im Jahr 1971 bei der Vergabe von Studien- und Arbeitsplätzen stark begünstigte. Die ursprünglich als Wiedergutmachung für die Opfer der blutigen Trennung gedachte Bevorzugung war über die Jahre zum Symbol für die Vetternwirtschaft und die Korruption geworden, unter denen Bangladesch leidet. Es ist das Land mit der höchsten Bevölkerungsdichte weltweit, etwa 170 Millionen Menschen leben dort auf einer Fläche, die ungefähr 40 Prozent von Deutschland entspricht. Unter Sheikh Hasina war die Wirtschaft gewachsen und die Armut zurückgegangen, aber die 2009 ins Amt gekommene Premierministerin regierte zunehmend autokratisch. Die Wahlen im Januar, die ihr zur vierten Amtszeit in Folge verhalfen, galten als manipuliert und wurden von der Opposition boykottiert.

Doch auch jetzt, nach ihrer Flucht, steht ein Teil von Bangladesch noch still: Die Flughäfen bleiben bis auf Weiteres geschlossen, vor allem, um die Ausreise von Menschen zu verhindern, die sich strafbar gemacht haben – entweder bei den Krawallen der vergangenen Tage oder vorher in der Regierung. „Wir müssen ja auch die Gerichte erst wieder in die Lage versetzen, ordentlich Recht zu sprechen“, sagt der Textilexporteur. Viele Oppositionspolitiker sitzen im Gefängnis, von 10 000 Inhaftierten war zuletzt die Rede, sie müssten rasch freigelassen werden oder einen ordentlichen Prozess bekommen. Der Unternehmer gehört der Generation von Menschen an, die den traumatischen Trennungskrieg als Kinder erlebt haben. „Jetzt fangen wir noch mal von vorn an“, sagt er. Die Älteren wie er hätten die Unruhen zumeist am Bildschirm beobachtet, aber die Jungen, die wollten jetzt ein anderes Land. Weniger korrupt, mit mehr Gleichheit für alle. Es könnte eine Chance sein.

Eine zentrale Rolle soll jetzt Muhammad Yunus spielen

Muhammad Yunus, der Friedensnobelpreisträger von 2006, soll den Neuanfang begleiten. Wie das Büro von Präsident Mohammed Shahabuddin bestätigte, hat sich das von General Waker-uz-Zaman geführte Militär am Dienstag mit den Studentenführern darauf geeinigt, dass der 86-jährige Wirtschaftswissenschaftler als Chefberater einer Übergangsregierung fungiert. „Jede andere Regierung als die von uns vorgeschlagene würde nicht akzeptiert werden“, sagte Nahid Islam, einer der Hauptorganisatoren der Bewegung, auf seinem Facebook-Account. Islam ist ein Soziologiestudent, der seine harten Forderungen mit sanfter Stimme ausspricht. „Wir haben Gespräche mit Muhammad Yunus geführt und er hat sich bereit erklärt, auf unsere Einladung hin diese Verantwortung zu übernehmen“, sagt der 26-Jährige.

Den Friedensnobelpreis erhielt Yunus für die Idee von Mikrofinanzierungen ab 100 Dollar für Kleinunternehmer, die keine Bankkredite bekommen können. Damit hat er Millionen Bangladeschern aus der Armut geholfen. Allerdings wurde Yunus im Juni von einem Gericht in Dhaka wegen Veruntreuung angeklagt. Er soll mehr als zwei Millionen Dollar aus dem Wohlfahrtsfonds seiner gemeinnützigen Organisation abgezweigt haben und wurde mit fast 200 weiteren Anklagen überzogen. „Angesichts des Zustands des Rechts- und Justizsystems im Land wird Dr. Yunus keine faire Behandlung erfahren“, sagte der politische Analyst Zahed Ur Rahman zum Prozessauftakt dem US-Auslandssender Voice of America.

Yunus war gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden, laut der Nachrichtenagentur Reuters unterzieht er sich derzeit in Paris kleineren medizinischen Eingriffen. Dem indischen Sender Times Now gab er von dort ein Interview, in dem er sagte, dieser Montag sei für Bangladesch der „zweite Tag der Befreiung“ nach dem Unabhängigkeitskrieg 1971.

Hasinas Erzfeindin Khaleda Zia soll freigelassen werden

Er sagte allerdings auch, dass die Menschen in Bangladesch „wütend“ auf die indische Regierung seien, weil sie durch ihre Landeerlaubnis für Hasina „die Person unterstützt, die unser Leben zerstört hat“. Die Politikerin landete am Montag mit ihrer Schwester auf einem Militärflugplatz in Hindon bei Delhi, wie zwei indische Regierungsbeamte gegenüber Reuters bestätigten. Delhi hat Sheikh Hasina lange unterstützt, auch um eigene wirtschaftliche Interessen zu schützen. Die indische Armee kämpfte 1971 an der Seite des späteren Bangladesch, Indien wird ein wichtiger Verbündeter bleiben.

General Waker-uz-Zaman führte am Dienstag erste Gespräche über das weitere Vorgehen mit den Führern der wichtigsten politischen Parteien – mit Ausnahme der Awami-Liga von Hasina. Mit Präsident Mohammed Shahabuddin sprach er ebenfalls. Shahabuddin hatte am späten Montag in einer Fernsehansprache erklärt, dass „einstimmig beschlossen worden“ sei, eine Erzfeindin Hasinas sofort aus dem Hausarrest freizulassen: Khaleda Zia, die ehemalige Vorsitzende der oppositionellen Bangladesh Nationalist Partei (BNP), war Hasinas Vorgängerin als Ministerpräsidentin gewesen und ihr nach einem jahrzehntelangen Machtkampf 2009 unterlegen. Seitdem regierte Hasina.

Khaleda Zia, heute 78 Jahre alt, wurde 2018 wegen angeblicher Bestechung verurteilt und inhaftiert, sie hat die Vorwürfe bestritten. Zia ist die Mutter des amtierenden BNP-Chefs Tarique Rahman, der im Exil lebt. „Ich rufe die Menschen in Bangladesch dazu auf, inmitten dieses Übergangsmoments auf unserem demokratischen Weg Zurückhaltung zu üben und Ruhe zu bewahren“, schrieb Tarique Rahman am Dienstag auf X. „Es würde dem Geist der Revolution widersprechen, wenn die Menschen beschließen, das Gesetz ohne ein ordentliches Verfahren in die eigenen Hände zu nehmen.“ Nach Sheikh Hasinas Flucht war eine jubelnde Menschenmenge in das Anwesen der Premierministerin eingedrungen und hatte Möbel und Fernseher davongetragen. Einen Tag hat die Armee sie gewähren lassen. Doch nun soll eine neue Zeit beginnen.

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