Der Mittwoch, der laut Michael Ballweg ein „wichtiger Tag für Deutschland“ werden soll, beginnt mit maximaler Tristesse. Vor dem Gerichtsgebäude in der Olgastraße in Stuttgart regnet es am frühen Morgen so hartnäckig, dass sich eine Gruppe aus Fotografen, Journalisten und Ballweg-Fans unter ein viel zu kleines Plastikzelt drängt. Regenschirme werden aufgespannt, Kapuzen übergezogen, manche haben Tee dabei.
Das obligatorische Gerangel um die freien Plätze im Gerichtssaal muss sich Ballweg immerhin nicht antun. Der Gründer der „Querdenken“-Bewegung ist der Angeklagte und damit unerlässlich in diesem Verfahren. Es soll klären, ob der 49-Jährige ein Betrüger ist. Ballweg wartet mit seinen Anwälten etwas abseits unter einem betonierten Dach. Sollte er so etwas wie Nervosität verspüren, so lässt er sie sich nicht anmerken. Er lächelt. „Guten Morgen.“
Es dauert dann ziemlich lange, bis alle in der Trockenheit des Gerichtssaals sitzen. Eine halbe Stunde später als geplant steht die Staatsanwältin auf und verliest die Anklage: Ballweg habe seit Mai 2020 durch öffentliche Spendenaufrufe auf der Internetseite von „Querdenken“ und bei Veranstaltungen rund 1,2 Millionen Euro eingeworben. Dabei habe er „wahrheitswidrig“ behauptet, das Geld für die Ziele von „Querdenken“ einzusetzen. Einen signifikanten Teil der Zuwendungen, insgesamt 575 000 Euro, habe er jedoch für private Zwecke verwendet. Mal sei Geld auf seine privaten Konten geflossen, mal als Darlehen in seine Firma, mal habe die „Herzensmenschen Familienstiftung“ profitiert, deren Zweck, grob gesagt, die Förderung des Stifters gewesen sei. Der Name des Stifters: Michael Ballweg. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm versuchten gewerblichen Betrug in 9450 Fällen vor.
Einige Anhänger gingen davon aus, ihr Geld werde für Belange von „Querdenken“ eingesetzt
Die kleinste Zuwendung betrug einen Cent, die größte 25 000 Euro. Laut Staatsanwältin rief Ballweg „Fehlvorstellungen“ bei den Geschädigten hervor, indem er immer wieder behauptete, dass er ehrenamtlich für die Bewegung arbeite. Das ist die große Frage, die über diesem Prozess schwebt: Hat Ballweg seine Anhänger getäuscht? So klangen zumindest einige der Unterstützer, als sie von den Ermittlern befragt wurden. Sie gingen nach Informationen der Süddeutschen Zeitung davon aus, dass ihr Geld explizit für Belange von „Querdenken“ eingesetzt werde. Andere sagten aus, es sei ihnen egal gewesen, was Ballweg mit ihrem Geld anstellt.
Bei Ballwegs Unterstützern im Gerichtssaal scheint die Sache klar zu sein. „So ein Quatsch“, schnaubt jemand, als die Staatsanwältin vorträgt, dass der Angeklagte 55 000 Euro vom „Querdenken“-Konto auf sein privates Kryptokonto überwiesen habe. Und auch grundsätzlich bestehen bei Teilen des Publikums offensichtlich gewisse Vorbehalte, was die Neutralität der Strafkammer angeht. Da ist zum Beispiel der Mann in der letzten Reihe, der über „sogenannte Staatsanwälte“ raunt. Oder die Frau mit der Friedenstaube auf dem Shirt, die sich beim Gerichtssprecher beschwert, dass sie weder Stift noch Papier mit in den Saal habe nehmen dürfen. Sie müsse doch die Verhandlung protokollieren.
Auf der Internetseite von „Querdenken 711“, dem Stuttgarter Ableger der Bewegung, werden sogenannte Prozessbeobachter dazu animiert, „Mitschriften“ und „Erlebnisberichte“ anzufertigen. Um sicherzustellen, „dass nichts übersehen wird“, wie es heißt. Geachtet werden soll unter anderem auf „die Gestik und Mimik der Richter“.
Die Verteidiger teilen mit, ihr Mandant werde vor Gericht keine Angaben machen
Viel zu beobachten gibt es am ersten Prozesstag allerdings nicht. Als die Anklage verlesen ist, kündigen Ballwegs Verteidiger an, ihr Mandant werde keine Angaben machen, weder zu sich selbst noch zu den Vorwürfen. Damit ist der Verhandlungstag beendet.
Anschließend stehen Ballweg und seine Verteidiger im Gang des Landgerichts, umringt von Mikrofonen und Kameras. Ballweg sagt, ihm sei im Gerichtssaal erneut bewusst geworden, wie wichtig seine Arbeit 2020 gewesen sei, also die Mahnwachen für das Grundgesetz, für die Freiheitsrechte. Während Corona habe eine „verrückte Verfolgung von Maßnahmenkritikern“ stattgefunden: „Jetzt beginnt die Aufarbeitung.“ Das Gerichtsverfahren sieht er als Teil seines Freiheitskampfes. Er, Ballweg, gehe „als leuchtendes Beispiel voran“.
Auf die Frage, wie er die Vorwürfe, also den mutmaßlichen Betrug seiner Unterstützer, moralisch bewerte, sagt Ballweg: „Ich habe meine ganze Zeit und Energie dafür eingesetzt, eine Freiheitsbewegung in Deutschland aufzubauen.“ Dafür, so kann man ihn verstehen, habe er einen hohen Preis bezahlt: Sein Vermögen sei beschlagnahmt, seine Firmen seien „zerstört“ worden. Bevor er „Querdenken“-Demonstrationen organisierte, war er ein erfolgreicher IT-Unternehmer gewesen. Jetzt dürfe er nicht mal ein Bankkonto eröffnen. Aber: Davon werde sich die Bewegung nicht abhalten lassen.
Ballweg und seine Verteidiger haben die Vorwürfe stets zurückgewiesen, nicht nur die des versuchten Betrugs, sondern auch die der Steuerhinterziehung in einem Fall und die der versuchten Steuerhinterziehung in vier Fällen. Alexander Christ, der Sprecher des Verteidigerteams, sagte, die Anklage sei „lückenhaft“ und „in weiten Teilen unzusammenhängend“. Sie sei „ein Erzählungswerk“.
Ob das stimmt, wird das Gericht in mindestens 33 Verhandlungstagen klären. Ein Gericht jenes Rechtsstaates, den Ballweg nach eigenen Worten verteidigen wollte.