Süddeutsche Zeitung

Bahnstreik:Neben der Spur

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Auf der Schiene regieren seit Jahren Sparpolitik und Renditedruck. Nun kommt ohne guten Grund noch ein Warnstreik hinzu. So wird die Bahn nicht zum Verkehrsmittel der Zukunft.

Von Henrike Roßbach

Von James Krüss gibt es ein zauberhaftes Kinderbuch über eine nette, alte, kleine Bimmelbahn namens Henriette. Zu Beginn wird sie einem kurz vorgestellt und man erfährt: "Henriette, Henriette fuhr noch nie nach einem Plan." Im Fall dieser Henriette findet man das charmant, schließlich ist es ihre vornehmste Pflicht, die Kinder zum Blumen pflücken zu fahren, da kommt es auf ein paar Minuten nicht an. Bei der Deutschen Bahn dagegen liegen die Dinge anders. Die fährt zwar auch nur noch äußerst selten nach einem Plan. Charmant aber findet das niemand - im Gegenteil.

Die Ankündigung, "Ich komme mit dem Zug", wird inzwischen routinemäßig ergänzt um den Hinweis, "wenn alles klappt". Man empfindet als Wunder, was normal sein sollte: dass einen die Bahn pünktlich und komfortabel von A nach B bringt. Die Hindernisse zwischen Start- und Zielbahnhof scheinen zunehmend unüberwindbar zu sein: kaputte Züge, ausgefallene Züge, fehlende Lokführer, Signalstörungen, Weichenstörungen, Verzögerungen im Betriebsablauf, Baustellen. Hinzu kommen all die kleinen Zumutungen jenseits der Pünktlichkeit: geschlossene Bordbistros, gesperrte Toiletten, umgekehrte Wagenreihung, ausgefallene Reservierungssysteme, nicht öffnende Türen. Und Pendler und S-Bahn-Fahrer singen noch mal ganz andere Klagelieder.

Die Bahn könnte der Verkehrsträger der Zukunft sein. Noch aber stehen viele Menschen lieber mit dem Auto im Stau - als im Zweifel im Gang eines Zuges.

Und jetzt, als Zugabe: Warnstreiks. Die größte der Bahngewerkschaften, die Verkehrsgewerkschaft EVG, hat am Montag den kompletten Bahnverkehr zum Erliegen gebracht. Das fühlte sich für die Zugfahrer dann doch noch mal anders an als das übliche Chaos am Gleis.

Dürfen die das? Ja, natürlich dürfen sie! Streiks sind ein legitimes Mittel in Tarifauseinandersetzungen. Ohne das Recht, die Arbeit niederzulegen, wären Tarifverhandlungen bloß Kaffeekränzchen. Natürlich tut es weh, wenn gestreikt wird und der mühsam choreografierte Alltag der Menschen durcheinandergerät. Streikende Erzieherinnen, Müllwerker, Busfahrer, Fluglotsen oder eben Stellwerkmitarbeiter der Bahn treffen nie nur ihre Arbeitgeber, sondern immer auch die Bürger. Das aber ändert nichts am Streikrecht. Die Frage ist, ob die EVG sollte, was sie darf.

Es gibt keine Einigkeit, wie die Misere in den Griff zu bekommen wäre

Alle wissen, dass es bei der Bahn so nicht weitergehen kann: die Manager im gläsernen Bahn-Tower, die Verkehrspolitiker im Bundestag, der Verkehrsminister und natürlich auch die Mitarbeiter der Bahn samt der Gewerkschaften, die ihre Interessen vertreten. Es ist nur so, dass unter all diesen Wissenden unterschiedliche Vorstellungen herrschen, wie die Misere in den Griff zu bekommen wäre.

Die Erzählung der EVG etwa geht so: Dass es mies läuft bei der Bahn, liege am Personalmangel und der wiederum an den Arbeitsbedingungen, die nicht attraktiv genug seien. Es ist nicht ausgeschlossen, dass manch ein Gewerkschafter sogar überzeugt davon ist, dem Staatskonzern mit einer harten Linie im Tarifkonflikt letztlich einen Gefallen zu tun.

Dass die Bahn zu wenige Leute hat, ist unbestritten. Derzeit ist das Management damit beschäftigt, die personaltechnischen Fehlleistungen der vergangenen Jahre auszubessern; 20 000 neue Mitarbeiter sollen bis zum Jahresende eingestellt worden sein.

Richtig ist aber auch, dass der Konzern noch viel mehr Probleme hat: eine Pünktlichkeitsquote im Fernverkehr von gerade einmal 70 Prozent, Verluste im Güterverkehr, ein modernisierungsbedürftiges Schienennetz, zu wenige Züge, hohe Schulden - kurz: einen milliardenschweren Finanzbedarf. Über all das verhandelt die Bahn mit ihrem Eigentümer, dem Bund. Auch die Tarifverhandlungen finden vor diesem Hintergrund statt. Deshalb muss gefragt werden, was der eigentliche Grund war, die Tarifverhandlungen abzubrechen. Dabei zeigt sich, dass der Stein des Anstoßes doch nur ein Kiesel ist.

7,5 Prozent mehr Geld verlangt die Gewerkschaft, zudem sollen die Bahn-Mitarbeiter zwischen mehr Geld oder mehr Freizeit wählen dürfen. Insgesamt umfasst der Forderungskatalog der EVG 37 Punkte, und nach der dritten Verhandlungsrunde hatte sie schon verkündet, die meisten davon durchgesetzt zu haben. Die vierte Runde scheiterte dennoch spektakulär - und zwar, wie die EVG freimütig vorrechnete, an einem Prozentpunkt zu wenig Geld und fünf Monaten zu viel Laufzeit. Es ist verständlich, dass die Gewerkschaft hier noch nachbessern will. Bundesweite Warnstreiks aber sind eine Überreaktion, die eine ohnehin schon schwer strapazierte Kundschaft trifft: Millionen von Bahnreisenden.

"Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen", dichtete Matthias Claudius im 18. Jahrhundert. Heute sind es die Zugfahrer, die besonders viel zu erzählen haben. Dafür aber, dass darunter endlich weniger Gruselgeschichten sind, tragen alle Seiten Verantwortung.

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Quelle:
SZ vom 11.12.2018
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