Mitte der Neunzigerjahre, ungefähr zu der Zeit, als das später hart umkämpfte Megaprojekt "Stuttgart 21" beschlossen wurde, lief in der ARD eine Sendung, an die sich Menschen mit Schlafproblemen noch heute gerne erinnern: "Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands", hieß sie. Zu sehen war jeweils eine Zugfahrt aus Sicht des Lokführers, Blick aus dem Führerstand, ohne Kameraschwenk: Schienen, Schwellen und Signale, immer geradeaus.
Die Sendung wurde 2013 eingestellt, ein Jahr nachdem mit dem Bau einer neuen Bahnstrecke begonnen wurde, die wohl auch eine Sendung verdient gehabt hätte: Der Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Ulm und Stuttgart, die 60 Kilometer an der Autobahn 8 entlangführt. In diesem Jahr soll sie in Betrieb gehen, vom 11. Dezember 2022 an werden ICEs dort mit bis zu 250 Kilometern pro Stunde entlangbrausen und Reisenden, wenn alles klappt, eine Viertelstunde Zeit sparen.
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Mitte Dezember hat die Bahn einen ersten Lokführer auf die Strecke geschickt: Ein Messzug zuckelte mit Tempo 20 über die frisch verlegten Gleise und prüfte, ob alles ordnungsgemäß gebaut wurde. Mit an Bord war eine Kamera, die die Fahrt aus dem Führerstand filmte. Aus den Aufnahmen ist ein fast dreistündiges Video entstanden, das die Bahn am zweiten Weihnachtsfeiertag eher spaßeshalber auf Youtube hochlud. Dessen Erfolg könnte den Programmverantwortlichen der ARD zu denken geben: Der Film wurde schon am ersten Tag 10 000 Mal aufgerufen. Eine Woche später steht der Zähler auf über 72 000.
Die Kommentare, die einige Nutzer unter dem Video hinterlassen haben, deuten darauf hin, dass viele sich die Fahrt, die auf der Hälfte der Strecke durch Tunnel führt, tatsächlich in voller Länge angesehen haben - einige Nutzer empfehlen immerhin, bei der Wiedergabe die doppelte Geschwindigkeit einzustellen.
Die Hochgeschwindigkeitstrasse wird manchmal irrtümlich als Teil von "Stuttgart 21" bezeichnet. Tatsächlich ist sie aber so etwas wie die ungleich beliebtere Schwester des umstrittenen Großprojekts: Mit etwa vier Milliarden Euro Kosten halb so teuer, schneller fertig und sogar aus Sicht von Baden-Württembergs grünem Verkehrsminister Winfried Hermann, einem altgedienten "Stuttgart 21"-Gegner, sinnvoll.
Bei "Stuttgart 21", das zur Erinnerung, weil der Baubeginn doch schon ein paar Jahre zurückliegt, geht es darum, eine komplett neue Bahnanbindung für Baden-Württembergs Landeshauptstadt zu schaffen: Eine oberirdische Sackgasse wird durch ein Ringsystem aus Tunneln und einen unterirdischen Bahnhof ersetzt, was den gewünschten Nebeneffekt hat, dass Platz für Wohnraum entsteht.
Die Neubaustrecke, die einige Kilometer vor Stuttgart endet, trifft in Wendlingen am Neckar auf die Gleise von "Stuttgart 21". Wenn beides fertig ist, soll sich die Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm auf eine halbe Stunde verkürzen. Nach jetzigem Stand soll das Projekt, dessen Name nie eine Fertigstellung im Jahr 2021, sondern im 21. Jahrhundert versprach, im Dezember 2025 in Betrieb gehen. Schon im Frühjahr 2022 beginnen zwischen Ulm und Wendlingen Testfahrten mit ICEs in voller Fahrt. Schon jetzt ist klar, dass eine Kamera im Führerstand dabei sein wird.