Zwischen Pappeln und Birken irgendwo am Stadtrand von Kiew steht ein Gepard-Flugabwehrkanonenpanzer, geliefert von Deutschland. Drei Drohnen hat er am Freitag erst abgeschossen, berichtet die Besatzung. Sie hat gut zu tun derzeit. Fast täglich greift Russland mit Drohnen und Raketen an, in Kiew und im ganzen Land. Sie bräuchten noch mehr Unterstützung für die Luftverteidigung, sagen sie, vor allem Munition.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist hierhergekommen, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen – und dem Nachdruck zu verleihen, was sie schon bei ihrer Ankunft in der Ukraine am Montagmorgen gesagt hat: Seit dem ersten Tag des Krieges „und gerade jetzt“ gelte unverrückbar: „Deutschland steht gemeinsam mit vielen Partnern weltweit felsenfest an der Seite der Ukraine.“
Allerdings war die Lage für Präsident Wolodimir Selenskij in den fast 1000 Tagen seit Kriegsbeginn abgesehen von den ersten Wochen des Verteidigungskampfes gegen die russischen Invasoren selten so schwierig wie jetzt – und welche der Partner noch zu dem Land stehen, muss sich weisen. Gerade deswegen ist Baerbock zum achten Mal seit Februar 2022 hierher gereist; der Besuch wurde aus Sicherheitsgründen nicht angekündigt.
Baerbock wirft Putin einen Zermürbungskrieg vor
Zum einen sieht die Ukraine sich laut dem Oberkommandierenden der Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyj, einer der heftigsten Angriffswellen seit Kriegsbeginn ausgesetzt. Die russische Armee erzielt bei ihrer Offensive im Donbass Geländegewinne. Offenbar will Präsident Wladimir Putin ungeachtet hoher Verluste so viel Gebiet wie möglich erobern, bevor Regen und Schnee das Vorrücken größerer Truppenverbände erschweren.
Zugleich lässt er die Zivilbevölkerung weiter terrorisieren – einen Zermürbungskrieg wirft Baerbock ihm vor. Sie lässt sich durch eine Energieanlage führen. Fünf Angriffe hat es hier gegeben. Silbernes Wellblech am Dach zeigt, wo die Rakete eingeschlagen ist. Deutschland hat die Reparatur mit Geld und Material unterstützt. Kraftwerke und Stromnetz sind die wichtigsten Ziele der Attacken, jetzt, wo der dritte Kriegswinter bevorsteht. Oft hängt in der Ukraine daran die Fernwärme. Fällt sie aus, müssen die Menschen frieren. Und bekommen kein Wasser mehr.
Russland hat auch die Angriffe auf Charkiw wieder verstärkt, die zweitgrößte Stadt des Landes. Zudem hat Nordkorea Tausende Soldaten nach Russland geschickt, die bald gegen die ukrainischen Truppen zum Einsatz kommen sollen, die in der Region Kursk auf russisches Territorium vorgedrungen sind.
Zum anderen steht die von Baerbock beschworene internationale Unterstützung infrage; sie sei „nicht zufällig am Vorabend der US-Präsidentschaftswahl“ nach Kiew gereist, sagt sie in der Pressekonferenz mit ihrem Kollegen Andrij Sybiha. Washington ist wichtigster Geber von Waffenhilfe. Sollte aber Donald Trump ins Weiße Haus zurückzukehren, muss die Ukraine damit rechnen, dass er die Militärhilfe kappt.
Sybiha bekräftigte, es gebe keinen anderen Weg, als den sogenannten Siegesplan Selenskijs zu unterstützen. Damit will der Präsident sein Land bis Ende des Jahres in eine Position bringen, die Verhandlungen mit Putin auf Augenhöhe ermöglichen soll, um den Krieg im kommenden Jahr zu beenden. Selenskij kritisierte auf dem Kurznachrichtenkanal X, die massiven russischen Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine wären nicht möglich, wenn sein Land die nötige Unterstützung erhalten würde.
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Er verlangte schärfere Sanktionen gegen Moskau, um die Einfuhr von Komponenten für Waffensysteme wirksamer zu unterbinden. Er forderte zudem die Erlaubnis, von westlichen Ländern gelieferte weitreichende Waffensysteme gegen Militärstützpunkte weit im russischen Hinterland einsetzen zu dürfen. Der scheidende US-Präsident Joe Biden verweigert die Zustimmung aber bislang, Bundeskanzler Olaf Scholz teilt diese Haltung. Baerbock hat dagegen wiederholt zu erkennen gegeben, dass sie diese Erlaubnis für unerlässlich hält und auch bereit wäre, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern.
Koalitionskrise wirft Schatten bis Kiew
Angesichts der neuerlichen Regierungskrise der Ampelkoalition ist mit weitreichenden Entscheidungen in Berlin ohnehin nicht zu rechnen. Im Gegenteil: Sollte es zum Bruch des Dreierbündnisses kommen, müsste die Ukraine auch um weitere Rüstungslieferungen ihres zweitwichtigsten militärischen Unterstützers fürchten. Zwar sagte Baerbock, die Antwort der Bundesregierung auf „unzählige zerbombte Heizkraftwerke und Stromleitungen“ sei der Winterschutzschirm, den man kürzlich um 170 Millionen Euro weiter aufgestockt habe. Sie kündigte zudem neue Nothilfen für den Winter in Höhe von 200 Millionen Euro an und verwies auf die deutsche Initiative zur Stärkung der Luftverteidigung.
Allerdings macht das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) Front gegen Waffenlieferungen; die Parteichefin versucht über die Koalitionsverhandlungen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen Einfluss auf die Bundespolitik zu nehmen. Sie wisse, „wie erschreckend manche Debatten in Deutschland in euren Ohren klingen mögen“, sagte Baerbock, es werde eine Umkehr von Aggressor und Opfer versucht. In der Kanzlerpartei SPD gibt es Austritte prominenter Mitglieder, die eine neuerliche Kehrtwende in der Russland-Politik fürchten.
Immerhin haben die G-7-Staaten vor wenigen Tagen der Ukraine einen Kredit von bis zu 50 Milliarden Dollar bereitgestellt, der ihr eine gewisse Durchhaltefähigkeit verleihen soll, unabhängig vom Wahlausgang in den USA. Der Kredit ist abgesichert über die Gewinne, die aus eingefrorenem russischen Staatsvermögen entstehen.
„Wir werden die Ukrainerinnen und Ukrainer so lange unterstützen, wie sie uns brauchen, damit sie ihren Weg zu einem gerechten Frieden gehen können“, betont Baerbock. Ihre Gesprächspartner in Kiew danken artig – aber fragen sich auch, ob sie sich auf solche Beteuerungen noch verlassen können.