Flucht aus der Ukraine:Baerbock will Moldau Flüchtlinge abnehmen

Flucht aus der Ukraine: "Ich habe selber zwei Kinder im gleichen Alter", sagt Annalena Baerbock zu aus der Ukraine Geflüchteten am Grenzübergang nach Moldau.

"Ich habe selber zwei Kinder im gleichen Alter", sagt Annalena Baerbock zu aus der Ukraine Geflüchteten am Grenzübergang nach Moldau.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Die Außenministerin reist in das Nachbarland der Ukraine, dessen Bevölkerung durch die Flüchtlinge um vier Prozent gewachsen ist. Doch vor allem die wirtschaftliche Lage bereitet Moldau Sorge.

Von Paul-Anton Krüger, Chișinău/Palanca

Sie kommen mit dem wenigen, was sie mitschleppen können. Einem Rollkoffer, einem Rucksack, Plastiktüten. Eine alte Frau mit dem Rollator, eine junge mit dem Hund an der Leine. Mütter mit ihren Kindern, die sich, eingepackt in dicke Winterjacken, Mützen und Handschuhen, halb verzweifelt, halb erleichtert an Stofftiere klammern. Palanca bedeutet für sie Sicherheit. Aber auch, die Heimat hinter sich zu lassen. Palanca ist der Grenzübergang von der Ukraine in die Republik Moldau, ganz im Südosten des Landes. Bis nach Odessa, der Millionenstadt am Schwarzen Meer, sind es 50 Kilometer. Von dort ist der Krieg nicht mehr weit.

Annalena Baerbock geht in die Hocke, hebt ein Spielzeugauto vom Boden auf, das einem kleinen Jungen hinuntergefallen ist, drückt es ihm in die Hand. Die grüne Bundesaußenministerin, 41 und selbst Mutter, ist gekommen, um sich ein Bild zu machen von der Situation der Flüchtlinge, von der Lage an der Grenze. Der Chef der moldauischen Grenzpolizei, Rosian Vasiloi, führt sie durch den Übergang. Rechts warten die Fußgänger darauf, dass ihre Pässe gestempelt werden, in der anderen Schlange zur Linken stehen die Autos an.

Eine Frau, die blonden Haare zu einem Dutt gebunden und mit einem rosa Hausanzug gekleidet, kramt in ihrem Kofferraum, während die beiden Kinder, vier und zwölf Jahre alt, auf der Rückbank sitzen. "Wir sind mit dem, was wir anhatten, ins Auto gestiegen", sagt sie fast entschuldigend zu Baerbock in ihrem roten Mantel. "Ich habe selber zwei Kinder im gleichen Alter", antwortet Baerbock. "Ich habe große Bewunderung für Sie." Die Frau will von Moldau nach Polen weiter. Da habe es ihr Bruder hingeschafft. "Und dann weiter nach Portugal, da habe ich eine Schwester", sagt sie. Gekommen sind sie aus Sumy, mehr als 800 Kilometer entfernt, im Norden an der Grenze zu Russland gelegen. Es hat schwere Kämpfe gegeben dort.

Jeden Tag kommen Tausende Flüchtlinge in Palanca an

"Vier- bis fünftausend Menschen kommen hier derzeit pro Tag an", sagt Vasiloi. Es waren auch schon 11 000 oder 12 000. Männer sind nur wenige zu sehen, sie dürfen die Ukraine nicht verlassen, wenn sie im wehrfähigen Alter sind. "Derzeit stammen die meisten Flüchtlinge aus den Regionen Cherson und Mariupol", erklärt Vasiloi - dort sind die Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin schon eingefallen, mit Artillerie, Raketen, Luftangriffen. Auch Wohnviertel schonen sie nicht, selbst Krankenhäuser werden bombardiert.

Um Odessa ist es noch relativ ruhig, es gehen sogar etwa 500 Menschen pro Tag zurück über die Grenze. Sollten die Gefechte aber den wichtigsten Hafen der Ukraine erreichen, müssen sie hier in Palanca mit Hunderttausenden rechnen. Doch Moldau ist jetzt schon am Rande der Kapazitäten. Die Fahrt aus der Hauptstadt Chișinău führt vorbei an Feldern, Obstplantagen, Weinreben. Landwirtschaft war, was Moskau zu Sowjetzeiten der damaligen Teilrepublik zugedacht hatte. Viele der bescheidenen Häuser auf dem Land haben weder Heizung noch Kanalisation, die Dusche und das Klo sind im Freien. Moldau ist heute eines der ärmsten Länder in Europa, die Wirtschaftsleistung liegt hinter der von Malta.

Dennoch: "Die Grenzen unseres Landes sind offen für diejenigen, die vor dem Krieg fliehen", hat Außenminister Nicolae Popescu am Morgen in Chișinău gesagt nach seinem Gespräch mit Baerbock, "auch wenn die Ressourcen sehr eingeschränkt sind." Bislang habe sein Land 300 000 Flüchtlinge aufgenommen, von denen sich noch etwa ein Drittel im Land befinde. Die meisten seien "in den Häusern unserer Mitbürger untergekommen", nicht etwa in Lagern. "Man muss sich vorstellen, was das heißt, eine Familie in der eigenen Zwei- oder Dreizimmerwohnung aufzunehmen", sagte Baerbock: Essen bereitzustellen, Strom, Wäsche zu waschen, Kinder zu versorgen neben den eigenen, die zudem vielleicht traumatisiert sind.

Ein Großteil der Importe und Exporte Moldaus lief über Odessa

Weit mehr als die Flüchtlinge aus der Ukraine aber belaste der Krieg selbst sein Land, so Popescu. Die Wirtschaft wie auch das Staatsbudget litten unter der Beeinträchtigung der Handelsbeziehungen. Einen Großteil der Importe und Exporte wickelte das Land bisher über Odessa ab. Die Verbindungen sind jetzt unterbrochen. Sollten russische Truppen die Stadt einnehmen oder sollte der Hafen bei Gefechten in Mitleidenschaft gezogen werden, hätte dies für Moldau langfristig schwerwiegende Folgen; das Land hat keinen eigenen Zugang zum Meer.

Die Unsicherheit beeinträchtige die Bereitschaft ausländischer Investoren, sich in Moldau zu engagieren - zeitweise fürchten viele hier, ihr Land könnte Putins nächstes Ziel sein. In der abtrünnigen Region Transnistrien sind russische Soldaten stationiert, vom Kreml als Friedenstruppe tituliert, und Moskau hat Zehntausende Pässe dort ausgegeben. Während die Investitionen sinken, steigen die Kosten: für die Grenzsicherung und die Abwicklung der vielen Einreisen, aber auch für das Gesundheits- oder das Bildungssystem. "Unsere Bevölkerung ist in zwei Wochen um vier Prozent gewachsen", sagt Popescu. Um die Stabilität zu sichern, brauche sein Land weitere internationale Unterstützung.

Baerbock verweist darauf, dass das Land mit 2,5 Millionen Einwohnern im Verhältnis zu seiner Größe und Wirtschaftskraft die größte Last zu tragen habe von allen Nachbarstaaten der Ukraine. Es müsse im Kreise der EU- und der G-7-Staaten Diskussionen über konkrete Lösungen und die Aufnahme von Flüchtlingen geben. Gefragt nach einer Luftbrücke sagt die Ministerin, sie halte das für "absolut sinnvoll" und ergänzt, "auch über den Atlantik hinweg".

Baerbock: Deutschland nimmt Moldau 2500 Flüchtlinge ab

Deutschland werde 2500 ukrainische Flüchtlinge aus Moldau aufnehmen, kündigt Baerbock an. Es werde jetzt ein sogenannter grüner Korridor über Rumänien eingerichtet, um die Menschen vor allem mit Bussen in die Bundesrepublik zu bringen. Das "kann aber nur der Anfang sein", sagt sie. Es gehe darum, "sehr pragmatisch und schnell zu helfen". Die Flüchtlinge müssten schnell aus den grenznahen Gebieten herausgebracht werden.

Insgesamt haben bislang nach Baerbocks Worten 110 000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland Aufnahme gefunden. Seien anfangs noch viele Menschen mit dem Auto gekommen oder abgeholt worden, träfen in den Nachbarländern der Ukraine nun zunehmend Familien ein, die traumatisiert seien von den Ereignissen des Krieges, die nicht wüssten, wohin, und sich nicht alleine durchschlagen könnten. Dies gelte nicht nur für Moldau, sondern auch für die anderen Nachbarländer der Ukraine.

Moldau solle aber wegen der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Lage als Erstes geholfen werden. Die Kapazität für die private Aufnahme ist erschöpft und kann auch nicht über Monate aufrechterhalten werden. Die EU hat dem Land fünf Millionen Euro zugesagt, die Bundesregierung weitere drei Millionen. In der regulären Entwicklungszusammenarbeit sind im Bundeshaushalt bislang 37 Millionen Euro für Moldau eingeplant. Das Technische Hilfswerk liefert Schlafsäcke, Feldbetten, beheizbare Zelte und Matratzen, die dringend benötigt werden, um die Menschen bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt unterbringen zu können.

Einer der blauen Sattelschlepper steht auf dem Messegelände der Hauptstadt Chișinău. Drei Tage hat die Fahrt von Göppingen durch Österreich, Ungarn und Rumänien mit dem Sattelschlepper gedauert, berichten die beiden Fahrer der Außenministerin, bevor sie Richtung Grenze aufbricht. Die Stadtverwaltung hat hier eine Aufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge aufgebaut. Die Ankömmlinge werden registriert, es gibt eine Krankenstation, einen Impfbus. In einer der Hallen sind weiße Trennwände aufgestellt. Dahinter: ein Bett und eine Kommode und die wenigen Sachen, die die Menschen haben mitnehmen können. Den Eingang in die nummerierten Boxen haben die Bewohner mit Tüchern abgehängt. Es ist das einzige bisschen Privatheit, was ihnen bleibt. 920 Betten gibt es in dieser Halle, sagt Bürgermeister Ion Ceban. Vor allem Mütter mit Kindern kommen hier unter, alte Menschen und solche mit besonderen Bedürfnissen.

Baerbock setzt sich an einen blauen Plastiktisch, der im Gang steht, ein paar Kinder sitzen dort. An den Stellwänden hängen Zeichnungen. Sie hat Zeichenblöcke mitgebracht, Stifte und Malkästen mit Wasserfarbe. Und Domino-Steine. "Die kannst du nachher nehmen, wenn ihr Mathe macht", sagt Baerbock zu einem Mädchen, das die dunklen Haare zum Zopf geflochten hat. Die Kinder spielen Schule. Ein bisschen Alltag nach der tagelangen Flucht. Es ist einer der vielen Momente an diesem Tag, in denen Baerbock an ihre Töchter gedacht haben dürfte.

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