Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) ist zu einem Solidaritätsbesuch in die Ukraine gereist. Bei ihrer Ankunft in Kiew am Dienstagmorgen sagte sie, die Lage habe sich mit den massiven russischen Luftangriffen auf die zivile Infrastruktur und mit der brutalen russischen Offensive im Raum Charkiw noch einmal dramatisch zugespitzt. "Russischer Raketenterror" führe zu ständigem Luftalarm und Stromausfällen, vielerorts gebe es kaum Wasser. Auch in der Nacht war in der gesamten Osthälfte des Landes wieder Luftalarm ausgelöst worden. Selbst in der Hauptstadt hatte es zuletzt wiederholt Alarm gegeben.
Das Auswärtige Amt hatte die Reise wie üblich aus Sicherheitsgründen nicht vorab bekanntgegeben. Wegen des andauernden Beschusses durch russische Truppen verzichtete Baerbock bei ihrer siebten Reise in die Ukraine seit der umfassenden Invasion der Truppen von Präsident Wladimir Putin auf einen zunächst geplanten Besuch in Charkiw. Sie hatte die Großstadt im Nordosten des Landes bereits im Januar 2023 zusammen mit ihrem ukrainischen Kollegen Dmytro Kuleba besucht.
Baerbock würdigte, dass sich die Menschen trotz ihres harten Alltags nicht unterkriegen ließen: "Arbeiter reparieren zerbombte Kraftwerke, Kinder lernen Mathematik und Biologie in Bunkern sechs Meter unter der Erde, ein junger Koch eröffnet ein Restaurant in Charkiw, Menschen helfen einander beim Überleben", sagte sie. Sie alle stünden "für die beeindruckende Widerstandskraft und den Mut der Ukrainerinnen und Ukrainer".
Selenskij bittet um zwei weitere Patriot-Systeme
Um die Ukraine vor dem russischen Raketen- und Drohnenhagel zu schützen, brauche das Land mehr Flugabwehr, bekräftigte sie. Baerbock forderte dafür eindringlich mehr internationale Unterstützung: "Wir müssen jetzt alle Kräfte bündeln, damit die Ukraine bestehen kann (...) und damit Putins Truppen nicht bald vor unseren eigenen Grenzen stehen."
Ähnlich hatte sich zuvor Präsident Wolodimir Selenskij geäußert. Am Sonntag bat er um zwei Patriot-Flugabwehrsysteme zum Schutz von Charkiw. Die Welt könne "den russischen Terror stoppen, doch dazu muss der mangelnde politische Wille der führenden Politiker überwunden werden", schrieb Selenskyj am Sonntag auf der Plattform Telegram.
In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters forderte er die westlichen Partnerländer zudem auf, sich direkter zu engagieren. Sie sollten dabei von ihrem Territorium aus helfen, russische Raketen über der Ukraine abzufangen, und es Kiew erlauben, von ihnen gelieferte Waffen gegen militärisches Gerät einzusetzen, das die russische Armee in der Nähe der Grenze zusammenziehe. Beides lehnen bislang sowohl US-Präsident Joe Biden als auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ab.
Aufgrund der Luftüberlegenheit könne Russland mit Gleitbomben Städte attackieren und Verteidigungsstellungen vernichten, sagte Selenskij in seiner täglichen Videoansprache am Montagabend. Besonders aktiv nutzten die Russen diese zerstörerische Taktik seinen Angaben nach an den Frontabschnitten bei Charkiw sowie im Gebiet Donezk in Richtung Tschassiw Jar und Pokrowsk.
Globale Initiative für eine bessere Luftabwehr
Baerbock hat gemeinsam mit Verteidigungsminister Boris Pistorius eine globale Initiative gestartet mit dem Ziel, der Ukraine zusätzliche Luftverteidigung zur Verfügung zu stellen. Dabei haben westliche Länder inzwischen fast eine Milliarde Euro zugesagt, um Ersatzteile, Munition und ganze Systeme beschaffen zu können. Etwa zehn Länder haben zwar Unterstützung angekündigt, aber noch keine weiteren Abwehrsysteme geliefert.
Die Bundesregierung hat selbst zugesagt, ein drittes Patriot-System aus den Beständen der Bundeswehr zu liefern. Die US-Regierung hat ein weiteres System in Aussicht gestellt, das jeweils aus Radar- und Feuerleitgeräten besteht sowie vier Starteinheiten für die Lenkflugkörper. Italien erwägt, ein weiteres SAMP/T-Luftverteidigungssystem an die Ukraine abzutreten. Frankreich hat die Lieferung neuer Raketen für das System angekündigt.
Baerbock will bei ihren geplanten Gesprächen mit der ukrainischen Regierung auch über den Prozess zum EU-Beitritt sprechen. Dieser sei "die notwendige geopolitische Konsequenz aus Russlands völkerrechtswidrigem Angriffskrieg". Die Ukraine dürfe aber nicht nachlassen bei der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung, mahnte sie. Baerbock wollte dem Vernehmen nach auch Einschränkungen bei der Medienfreiheit thematisieren.
Die Bundesregierung richtet im Juni zudem eine Wiederaufbaukonferenz für die Ukraine in Berlin aus. Dabei soll zum einen Geld gesammelt werden, um Kriegsschäden zu beheben, zugleich aber auch Unternehmen aus westlichen Staaten bewegt werden, in der Ukraine zu investieren. Die Bundesregierung stellt deutschen Firmen dafür finanzielle Garantien bereit.