Bader-Ginsburg-Nachfolge:Logik der permanenten Eskalation

Graffiti der Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg in Washington

Die Trauer um Ruth Bader Ginsburg drückt sich auf einem Wandbild in Washington aus. Die Richterin des Supreme Court starb am 19. September 2020.

(Foto: AP)

Der Tod der Supreme-Court-Richterin Ruth Bader Ginsburg zeigt auf, dass die USA ein Rechtsproblem, ein Strukturproblem und ein Systemproblem haben. Nun eskaliert der Streit über ihre Nachbesetzung: Es geht um alles.

Kommentar von Stefan Kornelius

Staaten wanken, wenn ihre Institutionen schwach und aus der Zeit gefallen sind. Die USA stellen gerade fest, dass ihre Institutionen in diesem Herbst in schwere Schieflage geraten - eben weil sie dem rauen Klima nicht mehr standhalten und veraltet sind. Sicherheit gibt es jedenfalls nicht mehr: Beugt sich die Minderheit der Mehrheit? Werden die Regeln eingehalten? Zählt am Ende das Recht?

Die Nachbesetzung einer Richterstelle für das Oberste Gericht ist im parteiisch aufgeladenen Rechtssystem der USA allemal ein unfriedlicher Augenblick, der gerne mal ein Jahr anhält. Die außergewöhnliche Trump-Präsidentschaft benutzt diesen Politisierungsturbo nun, um nicht nur die heiß ersehnte dritte Richterstelle auf die Seite der Konservativen zu schaufeln, sondern um jede Menge Beifang einzusammeln: Sie mobilisiert Wähler, sie treibt die Lager hübsch auseinander, sie diszipliniert die eigenen Senatoren.

Dahinter verbirgt sich die Logik der permanenten Eskalation: Was die Demokraten dem Obersten Gericht unter Reagan und Bush angetan haben, zahlen die Republikaner unter Trump doppelt und dreifach zurück. Es wäre also nur folgerichtig, wenn die Demokraten nach einer Übernahme des Weißen Hauses und des Senats (zwei nicht geringe Unwägbarkeiten) das Gericht von neun auf elf Richterplätze erweitern oder ihre Durchgriffsrechte auf untere Gerichte erhöhen.

In den USA dient die oberste Justiz nicht notwendigerweise dem gesellschaftlichen Frieden. Sie soll das Bild einer Gesellschaft spiegeln und kulturpolitische wie moralische Leitsätze prägen. Deswegen sind die Richterplätze umkämpft wie das Präsidentenamt selbst. Prallen zwei ideologische Entscheidungen wie die Wahl zum höchsten Staatsamt und die Entscheidung zugunsten einer Richterin aufeinander, dann entladen sich bisher unbekannte Kräfte.

Die Jahrhundertpräsidentschaft von Donald Trump hat Institutionen spröde werden lassen. Die Exekutive hat das Vertrauen der Bürger verloren, Corona hat ihr den Rest gegeben. Die Legislative hat längst den Anschein der Erhabenheit aufgegeben. Und die Präsidentschaft versöhnt nicht, sie verhöhnt.

Zu viele Probleme

Die USA zahlen nun einen beachtlichen Preis für ein hoffnungslos aus der Zeit gefallenes System. Das beginnt beim Wahlrecht, dessen Ungerechtigkeit von niemandem mehr bestritten wird. Das setzt sich fort in einer Administration, die nicht für faire, gleiche und gerechte Wahlen zu sorgen in der Lage ist. Das spiegelt sich in einer Wahlkarte, die durch Manipulation parteipolitisch festgelegt ist. Die Hauptstadt Washington hat mit einer größeren Wählerzahl als Vermont oder Wyoming überhaupt keine Stimme.

Die Systemstarre ist abzulesen am Obersten Gericht, das keine Amtszeitbegrenzung kennt und das Schicksal der Nation in die Hände betagter Richter legt, die wie ein Feudalherrscher nur qua Tod aus dem Amt scheiden. Sie ist abzulesen an den Verfahrensregeln in Senat und Repräsentantenhaus, die eine Amtsenthebung nahezu unmöglich machen. Sie zeigt sich an einer Verfassungsinterpretation, die Milizen über dem Gewaltmonopol des Staates stehen lässt.

Die USA, das zeigt der Tod der Richterin Ruth Bader Ginsburg, haben ein Rechtsproblem, ein Strukturproblem, ein Systemproblem. Das sind zu viele Probleme auf einmal, erst recht vor einer Wahl.

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