Großbritannien und Elon Musk:Furchtlos in die Blamage

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In der Opposition im Dauerkampf um Aufmerksamkeit: die Tory-Vorsitzende Kemi Badenoch. (Foto: UK Parliament/AFP)

Großbritanniens Oppositionsführerin macht sich mit haltlosen Vorwürfen gegen Premierminister Keir Starmer bemerkbar – angestachelt von Falschbehauptungen, die Elon Musk auf seinem Netzwerk X verbreitete.

Von Michael Neudecker, London

Andrew Norfolk ist seit November in Rente, aber er und seine Arbeit sind gerade wieder ein großes Thema im Vereinigten Königreich. Norfolk war Chef-Investigativreporter der Times, er war es, der 2011 einen Skandal aufdeckte, in dem es um sogenannte „grooming gangs“ geht, also Banden, die mit dem massenhaften sexuellen Missbrauch von Minderjährigen Geld machen. Über Jahre hinweg haben diese Banden im Norden Englands Kinder Vergewaltigungen und Misshandlungen ausgesetzt oder sie selbst missbraucht. Mindestens 1400 Opfer wurden identifiziert. Es war und ist bis heute einer der größten und widerlichsten Skandale der jüngeren britischen Geschichte.

2011, als Andrew Norfolk in England monatelang nichts anderes machte, als in Gerichtssälen zu sitzen, mit Leuten zu reden und zu diesem einen Thema zu recherchieren, verdiente der damals schon steinreiche Elon Musk in den USA gerade viel Geld mit den neuen Tesla-Aktien; von einem Interesse für britische Politik zu jener Zeit ist nichts bekannt. Neuerdings aber interessiert sich Musk ja auf einmal für alles Mögliche jenseits seines Kompetenzbereichs, er schreibt und twittert (beziehungsweise xt) zu allen möglichen Themen europäischer Politik.

Die USA, findet  Musk, sollten am besten die armen Briten mittels Invasion von Starmer befreien

Zur Sache mit den „grooming gangs“ nun hat Musk seit Weihnachten mehr als 200 Beiträge auf dem von ihm kontrollierten Netzwerk veröffentlicht, bizarre, wahrheitsfreie Beschuldigungen, in denen er etwa den Labour-Premierminister Keir Starmer als „Tyrannen“ bezeichnet. Die USA, findet Musk, sollten am besten die armen Briten mittels Invasion von Starmer befreien.

Andrew Norfolk spricht in diesen Tagen in allen möglichen Interviews über den Skandal, der sein Lebenswerk wurde, wahrscheinlich niemand in diesem Land hat ja mehr Kenntnis der Sachlage als er. Er erklärt geduldig, was damals passierte, und redet, wenn er muss, auch über den Milliardär aus Amerika. „Am Konzept Wahrheit hat Elon Musk eindeutig wenig Interesse“, sagte Norfolk etwa der Times. Die Reaktionen der rechten Partei Reform UK und der bedrohlich nah am rechten Rand herumtänzelnden Tories sind für Norfolk bedenklich. Im Podcast „The News Agents“ nannte er sie eine „völlige Verdrehung der Tatsachen“.

Starmer wird wegen Vertuschung eines Kindesmissbrauchs-Skandals angegriffen – den er selbst mit aufgearbeitet hat

Die Tories haben die Wahlen im Sommer klar verloren, im Unterhaus haben sie so wenige Abgeordnete, dass sie chancenlos sind, der Regierungspartei die Stirn zu bieten. Als Opposition, noch dazu als vergleichsweise marginalisierte, ist jeder Tag einer im Dauerkampf um Aufmerksamkeit, und die neue Vorsitzende, die 45-jährige Kemi Badenoch, gefällt sich ohnehin in der Rolle der furchtlosen Provokateurin. Badenoch veröffentlichte am Dienstag und Mittwoch Videos und E-Mails, in denen sie in etwa sagt, was sie auch am Mittwochnachmittag im Unterhaus wiederholte: Es müsse jetzt eine „national inquiry“ geben, eine Untersuchung der Angelegenheit im Auftrag der Regierung also, und wenn Starmer sich weigere, heiße das nur, dass er Fehler vertusche.

Keir Starmer reagierte darauf am Mittwoch auf eine Weise, die man von ihm bisher nicht unbedingt gewohnt ist: in einem scharfen, aber doch ruhigen Ton, offenbar ohne vorher auswendig gelernte Formulierungen, er ließ Badenoch zeitweise wirken wie ein trotziges Kind. Starmer hatte zwar einen durchwachsenen Start als Premierminister, aber in Sachen „grooming gangs“ ist er mehr im Stoff als alle anderen Politiker: Er war Chef der nationalen Strafverfolgungsbehörde Crown Prosecution Service (CPS), als der Skandal in der Times erschien.

Andrew Norfolk erinnerte nun daher in seinen Interviews noch einmal daran, was auch damals von den involvierten Behörden und nicht zuletzt der Zeitung selbst betont wurde: Es war Starmer, der mit Norfolk und seinem Team reden wollte, um zu verstehen, was falsch gelaufen ist in den Jahren zuvor. Und der umgehend weitreichende Reformen des Strafverfolgungssystems anordnete, die zu zahlreichen Anklagen und Prozessen führten. Norfolk sagte den „News Agents“, viele Opfer hätten ihn angerufen und verstört reagiert auf all das, was nun öffentlich gesagt und behauptet werde. Eine Untersuchung brauche es nicht, sagte Norfolk, viele der Opfer wollten das auch gar nicht.

So eine Untersuchung gab es schließlich schon: 2022 wurde der Bericht dazu unter Leitung der schottischen Universitätsprofessorin Alexis Jay veröffentlicht. Sieben Jahre lang hatten Jay und ihr Team Missbrauchsfälle von Kindern im Königreich untersucht, rund 200 Millionen Pfund kostete die Untersuchung. Vorgestellt wurden 20 Empfehlungen, von denen bis heute „keine einzige“ umgesetzt wurde, wie Jay der BBC sagte.

Kemi Badenoch, als Staatssekretärin in der Tory-Regierung einst sogar zuständig für Kinder, sagte am Mittwoch im Unterhaus dazu einen Satz, der sie mehr entlarvte als vom Vorwurf der Untätigkeit befreite. Doch, sagte Badenoch, ihre Regierung sei sehr wohl aktiv geworden: „Wir haben 18 der 20 Empfehlungen akzeptiert.“

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