Süddeutsche Zeitung

Baden-Württemberg vor der Wahl:Ein Land unter Wechselstrom

58 Jahre lang hat die CDU in Baden-Württemberg regiert. Doch nun scheint im Ländle alles auf die Grünen und die SPD zuzulaufen. Seit Wochen üben sich Winfried Kretschmann von den Grünen und SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid im Schulterschluss - fraglich ist dann nur, wer Koch und wer Kellner wird.

Roman Deininger, Stuttgart

Staatsminister Helmut Rau ist die rechte Hand von Ministerpräsident Stefan Mappus, einer seiner engsten Vertrauten. Kürzlich aber, vor einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in Ludwigsburg, geriet er mit seinem Chef aneinander. Die Polizei, heißt es, musste die beiden trennen. Gut, Rau balgte sich nicht mit dem echten Mappus, sondern mit einem Demonstranten, der sich eine Mappus-Maske aufs Gesicht gesetzt hatte. Aber dass ein Minister mit einem Wutbürger rangelt: Das ist ein passendes Bild für einen galligen Wahlkampf, wie ihn das einstmals friedliche Baden-Württemberg noch nicht erlebt hat.

58 Jahre lang regiert die CDU nun im Südwesten. Die dringlichste Frage, die sich an Wahlsonntagen in dieser Zeit stellte, war die nach der Größe ihrer Mehrheit. Jetzt ist die selbsternannte "Baden-Württemberg-Partei" am Ende ihrer Sicherheiten angekommen, und mit ihr das Land. Erst gingen die braven Schwaben gegen einen Bahnhof auf die Straße, einen langen Augenblick sah es so aus, als sollte die Landtagswahl eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 werden. Der Augenblick verging.

Jetzt könnten sich Teile des Volks geneigt sehen, über den Kurs in der Atompolitik abzustimmen. Die Umfragen lassen das vermuten, das rot-grüne Lager hat plötzlich einen Vorsprung von drei bis fünf Prozent auf das schwarz-gelbe. Zwei Meiler hat die Regierungskoalition in Stuttgart nach der Katastrophe von Fukushima abgeschaltet, nun muss sie ihre Umkehr noch plausibel machen. Am Donnerstagabend versuchte das Justizminister Ulrich Goll von der FDP, er berichtete in der Fernsehdebatte der Spitzenkandidaten über seine jugendlichen Demo-Erfahrungen gegen das geplante Kernkraftwerk Wyhl. Unerhörte Dinge geschehen in Baden-Württemberg.

Grün und Rot üben sich im Schulterschluss

Dazu zählt sicher auch, dass die Grünen dem Vernehmen nach schon mal frohgemut eine Liste mit verwaltungstauglichem Personal erstellt haben. Grüne und Rote üben sich seit Wochen im Schulterschluss: Am Mittwoch trat Grünen-Spitzenkandidat Winfried Kretschmann bei einer SPD-Kundgebung in Karlsruhe auf - und SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid bei einer Grünen-Kundgebung in Stuttgart.

Wer von beiden Koch und wer Kellner wird, sei nicht vorrangig, sagt der gerade 37-jährige Jurist Schmid: "Wir übernehmen hier keine Landtagskantine, sondern den Landtag." Eine am Freitag veröffentlichte Forsa-Umfrage sieht Kretschmann als leichten Favoriten auf den Job des Kochs - um zwei Prozent liegen die Grünen vor der SPD. Ohne den Fukushima-Faktor wäre diese Rollenverteilung kaum denkbar gewesen. Der 62-jährige Ethiklehrer Kretschmann, der mit Langmut eine zwischen Realos und Fundis gespaltene Partei zusammenhält, wäre der erste grüne Ministerpräsident in Deutschland.

Die Grundlage für ein grün-rotes Regierungsprojekt ist da, beide wollen schnell raus aus der Kernkraft und Schüler länger gemeinsam lernen lassen. Stuttgart 21 freilich könnte zur Nagelprobe werden: Die Grünen sind gegen den Bahnhof, die SPD dafür. Immerhin: Beide wollen das Volk abstimmen lassen. Einig sind sie sich auch darin, dass in Koalitionsfragen "Ausschließeritis" (Kretschmann) unangebracht wäre.

Sie wollen mit allen reden, einschließlich der Linken, obwohl sie Letzteres, wie vor allem Schmid beteuert, sehr unerquicklich finden würden. Die Linke will für den "sozial-ökologischen Umbau" des Landes notfalls zehn Milliarden Euro Schulden machen, weshalb Mappus und die CDU angsterfüllt die kommunistische Gefahr an die Wand malen. Die Sorgen aller Beteiligten könnten sich aber rasch erledigen, wenn die Linke - wie die Demoskopen schätzen - knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern sollte.

Das Schicksal könnte entscheiden

Die Hoffnung, die der CDU nun bleibt, ist ihre angeblich sagenhafte Mobilisierungsfähigkeit. Die Partei hat 70.000 Mitglieder in Baden-Württemberg, mehr als die Grünen in der ganzen Republik. Mappus ruft inzwischen in jeder Wahlkampfrede eine Volksabstimmung eigenen Zuschnitts aus: Es gehe am Sonntag darum, ob man den unbestrittenen Wohlstand des Landes wirklich durch einen Regierungswechsel gefährden wolle. Eine differenzierte Debatte über Sachthemen ist so auch auf der Zielgeraden des überhitzten Wahlkampfs nicht zu erwarten - dazu hat die Opposition allerdings großzügig beigetragen, indem sie oft auch da brüllte, wo reden durchaus möglich gewesen wäre.

Alle Seiten haben das große Wort "Schicksalswahl" im Mund geführt. Wegen des besonderen Wahlrechts könnte sich das Schicksal schlimmstenfalls im Kleinen entscheiden: bei den Überhangmandaten, die nicht ausreichend ausgeglichen werden.

Das Wahlsystem mit nur einer Stimme bevorzugt die Partei, die sich in den meisten der 70 Wahlkreise durchsetzt. Das wird wohl die CDU sein, 69 gewann sie 2006. Auf der sicheren Seite, haben Wissenschaftler errechnet, darf sich Grün-Rot erst bei einem Stimmenvorsprung von drei Prozentpunkten fühlen.

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SZ vom 26.03.2011/dmo
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