Baden-Württemberg:Im Zentrum des Shitstorms

Coronavirus - Demonstration gegen Corona-Maßnahmen

"Die Unzufriedenen werden immer mehr": Teilnehmer einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Stuttgart.

(Foto: Christoph Schmidt/dpa)

Fünf Mitarbeiter der Landesregierung beantworten Fragen und Beschwerden von Bürgern zur Corona-Politik. Zu ihrem Job gehört es vor allem, sich den ganzen Tag anmeckern zu lassen.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Nur selten lässt sich ein Problem so schnell zur Zufriedenheit des Absenders klären: "Müssen Eheleute beim Liegen im Freibad beziehungsweise in der Therme auch den Abstand von 1,5 Metern einhalten?", will Christian L. von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann wissen. Kurz darauf bekommt er die Auskunft: "Nein, Christian L., müssen sie nicht." Fast 90 000 Kommentare haben Bürgerinnen und Bürger seit Beginn der Pandemie in Deutschland auf den Social-Media-Kanälen der grünen Regierungszentrale hinterlassen. Und Kretschmanns Staatsministerium behandelt diese öffentlichen Wortmeldungen so, als würde es sich dabei um persönliche Briefe handeln. Die Regierung nutzt Facebook, Twitter & Co. intensiv, um ihre Corona-Politik zu erklären.

Verantwortlich für die Onlinekommunikation ist Jana Höffner. Sie ist Referatsleiterin im Staatsministerium und hat normalerweise vor allem damit zu tun, das Internetportal der Landesregierung auf dem neuesten Stand zu halten. Das fällt zwar unter Corona nicht weg, die meiste Zeit ist sie aber nun damit beschäftigt, auf Fragen und Unmutsäußerungen der Internetnutzer zu reagieren. Das macht sie vom zweiten Stock der Villa Reitzenstein aus, wo sie nicht etwa in einer raumschiffartigen Kommunikationszentrale sitzt, sondern in einem hellen Einzelbüro. Sie hat vier Kollegen, die fast alle zu Hause arbeiten.

Bis März hatte Höffner nur halb so viele Mitarbeiter und kam damit recht gut zurecht. Damals summierten sich die Nutzerkommentare auf den verschiedenen Social-Media-Kanälen in zwei Monaten allerdings noch auf insgesamt 2600. Im März explodierte die Zahl dann regelrecht. "Der Rekord waren 2500 Kommentare in vier Stunden", sagt Höffner. Weil sie den Anspruch hat, jeden Post zu lesen und innerhalb weniger Stunden darauf zu reagieren, bedeutete das für das Team gerade in den ersten Wochen sehr lange Arbeitszeiten. Höffner und ihre Mitarbeiter wollten das Kommentaraufkommen abends auf ein einigermaßen überschaubares Niveau bringen, damit sie am nächste Tag zumindest die Chance hätten, die Lage in den Griff zu bekommen. Dass es da mal einen Tag gab, an dem sie um kurz vor zwölf ins Bett fiel, obwohl noch 400 unbearbeitete Posts im Verzeichnis standen, wurmt die Social-Media-Chefin ein wenig.

Drei Bildschirme stehen auf Höffners Schreibtisch, auf einem ist ein Programm geöffnet, in dem alle Kommentare gebündelt einlaufen - egal, ob sie auf Facebook, Instagram, Youtube oder in den Mikroblogging-Diensten Twitter und Mastodon gepostet werden. Jeder bekommt eine Bearbeitungsnummer, mit der die Redaktion die Übersicht behalten kann, wem sie in welcher Reihenfolge antworten sollte.

Die meisten Zuschriften kommen über die Facebookseite des Ministerpräsidenten herein. "Hallo Herr Kretschmann", schreiben einige Nutzer, auch "Lieber Herr Kretschmann" und "Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann". Nicht wenige Absender verzichten auf eine Anrede und kommen gleich zur Sache - vor allem dann, wenn sie ihrem Ärger Luft machen.

Baden-Württemberg: Jana Höffner, 41, leitet das Referat für Online-Kommunikation und Internet im grünen Staatsministeriums von Baden-Württemberg.

Jana Höffner, 41, leitet das Referat für Online-Kommunikation und Internet im grünen Staatsministeriums von Baden-Württemberg.

(Foto: privat)

Dass die Antworten nicht von Kretschmann selbst kommen, ist kein Geheimnis. Sie sind immer mit "Redaktion Staatsministerium" unterzeichnet. Den Input holt sich das Team, wenn nötig, aus den Fachministerien. Inzwischen haben die Mitarbeiter aber die meisten Themen selbst parat und können aus dem Stegreif Kurzreferate zur Corona-Pandemie und die politischen Eindämmungsmaßnahmen halten. Das Social-Media-Team ist auch dafür zuständig, Listen mit den Antworten auf häufig gestellte Fragen (FAQ) zu schreiben, die Höffner zu jeder neuen Corona-Verordnung auf dem Landesportal veröffentlicht. Immer wieder verweist die Redaktion in ihren Facebook-Kommentaren auf diese FAQs. Erstaunlich oft bringen die Mitarbeiter aber die Geduld auf, die gleichen Fragen noch einmal in anderen Worten zu beantworten.

Nach den ersten Wochen im Krisenmodus, in denen die Corona-Verordnungen beinahe überfallartig veröffentlicht wurden, ist die Landesregierung dazu übergegangen, dienstags nach der Kabinettssitzung anzukündigen, welche Lockerungen für die nächste Woche geplant sind - und dann bis zum Ende der Woche an den Details zu arbeiten. Viele Fragen, die nach diesen Grundsatzbeschlüssen beim Social-Media-Team aufschlagen, werden gleich an die Ministerien weitergegeben, sagt Höffner. Sie können dann in der Verordnung berücksichtigt werden. Was den Leuten auf Facebook und Twitter unter den Nägeln brennt, gibt die Referatsleiterin auch weiter, wenn sich der Ministerpräsident morgens von seinen Mitarbeitern in der Villa Reitzenstein über die Lage informieren lässt.

Seit Anfang März hat das Social-Media-Team einige Wellen erlebt. Anfangs hatten die Kommentatoren vor allem Fragen zur Auslegung der Verordnungen, es kamen auch Mahnungen zu mehr Vorsicht beim Öffnungskurs. Dann nahmen die Beschwerden zu und die Fragen, warum jenes Geschäft wieder in Betrieb gehen darf, das eigene Gewerbe aber noch warten muss. "Die Unzufriedenen werden immer mehr", sagt Höffner. Sehr viele Zuschriften stammten von Eltern, die forderten, dass Schulen und Kindertagesstätten wieder ohne Einschränkung öffnen sollten.

Zum Job des Social-Media-Teams gehört es, sich den ganzen Tag lang anmeckern lassen zu müssen. "Wir sind der Shitstorm-Filter der Landesregierung", sagt Jana Höffner. Natürlich sei das nicht immer das reine Vergnügen. Man habe einen Gruppenchat eingerichtet, um den Frust nicht allein im Home-Office in sich hineinfressen zu müssen, wenn ein allzu unverschämter Kommentar im System landet, und auch darüber hinaus noch ein paar Strategien zum Abreagieren. Manchmal, sehr selten, merkt man einer Antwort an, dass der Verfasser an die Grenzen seiner Geduld kam. "Ach, Frau H.", schrieb die Redaktion einer Dame, die unfair fand, dass Spielplätze geöffnet wurden, Kitas aber nicht. "Nur weil die derzeitige Entscheidung nicht in Ihrem Sinne ist, heißt das nicht, dass Sie nicht gehört werden." Aktuell geht es viel um die Maskenpflicht. Nein, mischt sich die Redaktion in die Diskussion ein, die Mund-Nasen-Bedeckung schütze den Träger nicht. Wenn aber jeder sein Gesicht bedecke, dann schütze einer den anderen. "Das muss man halt dann immer wieder erklären", sagt Jana Höffner.

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