Süddeutsche Zeitung

Baden-Württemberg:Massen demonstrieren ohne Masken

In Stuttgart setzen sich Tausende Corona-Leugner aus ganz Deutschland über die Auflagen zum Infektionsschutz hinweg. Nun wird gestritten, wer politisch die Verantwortung trägt.

Von Claudia Henzler, Stuttgart

Bei Demonstrationen von Corona-Leugnern in Stuttgart haben sich am Samstag etwa 10 000 Menschen in einer partyähnlichen Atmosphäre versammelt und bewusst gegen die Auflagen zum Infektionsschutz verstoßen. Nun streiten sich Politiker in Stadt und Land darüber, wer die Verantwortung für diese Szenen trägt und wie man eine Wiederholung vermeiden könnte. Die Polizeigewerkschaften kritisieren, dass die Veranstaltungen nicht verboten wurden. Auf Antrag der SPD sollen die Vorfälle im Innenausschuss des Landtags aufgearbeitet werden.

Was ist passiert?

In Stuttgart waren am Samstag mehrere Demonstrationen angemeldet worden, darunter eine von der Initiative "Querdenken" auf dem Volksfestplatz "Cannstatter Wasen" mit etwa 2500 Demonstranten, sowie ein Umzug auf einem sechs Kilometer langen Weg vom Marienplatz in Stuttgart-Süd quer durch die Stadt zum Volksfestplatz. Für diesen Umzug waren nur einige Hundert Teilnehmer angekündigt; er wurde nicht von "Querdenken" veranstaltet, von der Initiative jedoch bundesweit beworben. Die Polizei war offensichtlich überrascht, als dort mehr als tausend Menschen auftauchten - und diese fast ausnahmslos keine Masken trugen. Auf dem Weg zum Wasen wuchs der Demonstrationszug auf etwa 10 000 Teilnehmer an. Am Rande der Veranstaltungen soll es mehrere Angriffe auf Journalisten gegeben haben.

Warum trugen die Teilnehmer keine Masken?

Bei den Demonstrationen waren Menschen zu sehen, die sich die Hände schüttelten, sich umarmten und ohne Abstand miteinander plauderten. Sie verhielten sich, als sei das Realität, was auf den Plakaten einiger Demonstranten stand, und was auf dem Volksfestplatz von einem Redner fälschlicherweise behauptet wurde: Das Coronavirus sei ungefährlich und die Pandemie eine Illusion. Auf der "Querdenken"-Demonstration sagte der mit der Initiative eng verbundene Rechtsanwalt Ralf Ludwig auf der Bühne, dass es sich bei der Maskenpflicht um Folter und ein "unerträgliches Unrecht" handele, das zum Widerstand gegen die Staatsmacht berechtige.

Warum wurden die Demonstrationen nicht verboten?

Da mehrere kleinere Demonstrationen angemeldet waren, hatte die Stadt offenbar keine klare Vorstellung von dem, was am Samstag passieren würde. Die Stadt Stuttgart sagt, sie habe die Demonstrationen nicht verbieten können. "Es gab vor der Versammlung auf der Grundlage der Anmeldungen überhaupt keinen rechtlich begründbaren Ansatz, ein Versammlungsverbot auszusprechen", sagt Oberbürgermeister Frank Nopper. Die Anmelder hätten zugesagt, dass die Corona-Beschränkungen eingehalten würden. Das Rathaus war im vergangenen Jahr mehr als einmal mit Versuchen gescheitert, "Querdenken"-Demos zu untersagen. Bei zwei Großdemos im Mai 2020 waren die städtischen Auflagen noch beachtet worden.

Baden-Württembergs grün-geführtes Gesundheitsministerium ist der Ansicht, dass die Stadt die Demos hätte verbieten müssen. Darauf habe man das Rathaus vorher ausdrücklich aufmerksam gemacht. In der Corona-Verordnung des Landes steht, dass Versammlungen untersagt werden können, "sofern der Schutz vor Infektionen anderweitig, insbesondere durch Auflagen, nicht erreicht werden kann".

Warum hat die Stadt die Demos nicht aufgelöst?

Ordnungsbürgermeister Clemens Maier sagt, dass Stadt und Polizei vermeiden wollten, dass die Demonstrierenden "unkontrolliert durch die Stadt strömten". Er sei erleichtert, dass es zu keinen Ausschreitungen gekommen sei. "Die Bilder aus Stuttgart sind nicht schön, aber sie sind kein Vergleich zu den jüngsten Ereignissen in Brüssel, Kassel oder Dresden." Carsten Höfler, Chef der Stuttgarter Schutzpolizei, nannte den Verlauf der Demo "höchst unbefriedigend". "Bei mehr als 10 000 Menschen können wir natürlich nicht mit Robustheit und Härte reingehen." Ein Eingreifen hätte die Menge nur noch "verdichtet". Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU) sagte, angesichts des hohen Emotionalisierungsgrads habe die Polizei "besonnen und verhältnismäßig gehandelt".

Müssen die Teilnehmer mit Folgen rechnen?

Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) hat Konsequenzen angekündigt: "Die Stadt beabsichtigt, das rechtswidrige Verhalten mit Bußgeldern zu ahnden und zukünftige Veranstaltungen derselben Anmelder aufgrund der gestrigen Auflagenverstöße zu verbieten."

Wie sind die politischen Reaktionen?

Stuttgarts SPD-Kreisvorsitzender Dejan Perc hat am Samstag den Rücktritt von Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (Freie Wähler) gefordert. Der FDP-Bundestagsabgeordnete Christian Jung sieht die Verantwortung bei Landesinnenminister Thomas Strobl (CDU). Die SPD-Landtagsfraktion hat eine Sondersitzung des Innenausschusses gefordert, bei der Innenminister Thomas Strobl (CDU), Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) und Stuttgarts Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) Auskunft geben sollen. Der innenpolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion, Hans-Ulrich Sckerl sagte, dass der "Missbrauch des Grundrechts" auf Versammlungsfreiheit keinen Schutz genieße. "Gerade deshalb müssen wir uns auf rechtsstaatliche Wege verständigen, die verhindern, dass sich solche Vorkommnisse wiederholen."

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