Am Ende ist es ein Brief geworden, vier Seiten, persönlich im Ton, gerichtet an die Menschen in Baden-Württemberg. Cem Özdemir schreibt über seine Heimat Baden-Württemberg, seine Wurzeln in Bad Urach – und sicherlich nicht ganz zufällig über Winfried Kretschmann, den ersten grünen Ministerpräsidenten des Landes. „Winfried kennt mich lange und gut“, heißt es da, und er unterstütze die Entscheidung „aus vollem Herzen“, die Özdemir an diesem Freitagmittag verkündet: Er wolle „als Ministerpräsident von Baden-Württemberg dienen und alles für dieses Land geben“.
Damit endet die wahrscheinlich längste Hängepartie in der Geschichte der baden-württembergischen Landespolitik. Die Gerüchte, dass Bundeslandwirtschaftsminister Özdemir, 58, die Grünen als Spitzenkandidat in die Landtagswahl 2026 führen werde, schwirren schon so lange durchs politische Stuttgart, dass selbst Historiker Mühe haben dürften, die Ursprünge zu ergründen.
Zunächst hieß es eher vage, Özdemir könne sich unter Umständen vorstellen, das Erbe des großen Winfried Kretschmann, 76, anzutreten. Dann hieß es lange, Özdemir werde es mit großer Wahrscheinlichkeit machen. Doch mit jedem Tag, an dem Özdemir nichts sagte, mit jeder Umfrage, in der die Grünen weiter hinter die CDU zurückfielen, wuchsen auch die Zweifel: Warum schweigt er so lange? Hat er es sich vielleicht doch noch anders überlegt? Jetzt steht fest: Özdemir kommt.
16 Prozentpunkte liegen die Grünen in Umfragen hinter der CDU
Am Freitag ist es fast so, als könnte man den Südwest-Grünen beim kollektiven Ausatmen zuhören. Sie hatten sich in den vergangenen Monaten so sehr an die Vorstellung geklammert, dass Özdemir schon nicht abspringen werde, dass sie nicht mal pflichtschuldig Debatten über Notlösungen geführt haben. Özdemir oder keiner, nur ihm trauen sie zu, den Trend zu drehen, der gerade wirklich nicht für die Grünen spricht. 16 Prozentpunkte lagen sie in der jüngsten Umfrage hinter den Christdemokraten, ihrem aktuellen Koalitionspartner. Das ist sehr viel, beinahe aussichtslos. Aber wenn es einer schaffen kann, sagen sie bei den Grünen praktisch ausnahmslos, dann „der Cem“.
Özdemir ist sicherlich keine jüngere Kopie des allseits beliebten Kretschmann. Aber bei den Grünen glauben sie, dass er neben großer Prominenz über wichtige Eigenschaften verfügt, die den Amtsinhaber zu drei Wahlerfolgen in Serie trugen. Özdemir teilt Kretschmanns ultrapragmatisches Politikverständnis, das Wissen um die Bedeutung der Wirtschaft sowie die Überzeugung, dass die Grünen einen harten Kurs in der Migration einschlagen sollten. Dass er in Berlin den schwäbischen Dialekt nicht verlernt hat, wird ebenfalls als positives Zeichen gewertet. „Ein sehr überzeugendes Angebot“ sei der Kandidat Özdemir, heißt es in der Partei. Dass ihn der Landesverband auch formal nominieren wird, gilt als gesichert.
Diese Form der Huldigung ist keineswegs selbstverständlich, Özdemir und sein Landesverband mussten auch schon so manche Krise durchleiden. Unvergessen jener Parteitag 2008, als die Delegierten Özdemir, zu dem Zeitpunkt bereits designierter Bundesvorsitzender, einen sicheren Listenplatz für die kommende Bundestagswahl verweigerten – eine Demütigung. Beobachter glaubten, nach der Entscheidung bei Özdemir feuchte Augen zu erkennen. Der Verschmähte packte seinen Rucksack und verließ den Parteitag vorzeitig.
Özdemir hat sich hochgekämpft und immer wieder von Rückschlägen erholt
Rückschläge und wie sich einer davon erholt – das ist ein zentrales Motiv einer Karriere, die so begann, wie nicht viele Karrieren von deutschen Spitzenpolitikern beginnen: in Bad Urach, als Sohn von Gastarbeitern, die aus der Türkei ins Schwäbische gekommen waren. In seinem Brief am Freitag schreibt Özdemir, dass er sich anfangs in der Schule schwergetan habe. Nachbarn und Freunde mussten ihm bei den Hausaufgaben helfen. Özdemir ging zunächst auf die Hauptschule, wechselte auf die Realschule, machte nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Erzieher. Danach: Fachhochschulreife und ein Diplom als Sozialpädagoge. Özdemir hat sich hochgekämpft. Heute ist er der Stolz der Stadt, kommende Woche wird er zum Ehrenbürger von Bad Urach ernannt.
Auch die politische Karriere verlief keineswegs stromlinienförmig. Da war nicht nur der beleidigte Abgang vom Landesparteitag 2008, sondern sechs Jahre zuvor die Bonusmeilen-Affäre – Özdemir hatte dienstlich erworbene Flugmeilen für Privatreisen genutzt. Daraufhin legte er sein Bundestagsmandat nieder, er schien erledigt zu sein. Aber dann war er plötzlich wieder da und kämpfte sich zurück, bis ins Amt des Bundeslandwirtschaftsministers.
Lange Zeit erschien Baden-Württemberg zu klein für den Weltpolitiker Özdemir. Außenminister, das galt immer als sein großer Traum. Aber nachdem sich diese Tür nach den geplatzten Jamaika-Verhandlungen 2017 mutmaßlich endgültig geschlossen hatte, schien er irgendwann einen Reiz in der Aussicht zu erkennen, seine Karriere in der baden-württembergischen Heimat zu krönen. Er wäre der erste Ministerpräsident mit Migrationshintergrund. Im Frühjahr habe sich Özdemir entschieden, so berichten es enge Weggefährten. Seitdem ging es nicht mehr um die Frage, ob er Ja sagt, sondern nur wann. Fest steht: Özdemir wird auch diesmal ein gewaltiges Comeback brauchen.
Özdemirs Entscheidung für Stuttgart ist auch eine gegen Berlin – ein enormes Risiko
Er geht mit der Kandidatur ein enormes Risiko ein. Für den Bundestag wird er nicht mehr kandidieren können, die Entscheidung für Stuttgart ist auch eine gegen Berlin. Falls die Ampelregierung nicht vorher zerbricht, endet seine Amtszeit als Bundesminister im Herbst 2025. In der heißen Phase bis zur Landtagswahl im Frühjahr 2026 kann er sich auf die Spitzenkandidatur konzentrieren. Ihm bleibt also das Schicksal der Innenministerin Nancy Faeser (SPD) erspart, die im vergangenen Jahr kläglich bei dem Versuch scheiterte, aus einem Ministeramt heraus hessische Ministerpräsidentin zu werden. Trotzdem muss ihm ein komplizierter Spagat gelingen.
Denn für die Öffentlichkeit ist Özdemir von diesem Freitag an in einer Doppelrolle unterwegs: In Berlin muss er weiterhin für die Sorgen der Bauern kämpfen, die Anliegen der Tierschützer und der Verbraucher. In Baden-Württemberg muss er glaubwürdig erkennen lassen, dass er sich für die Komplexitäten des baden-württembergischen Bildungswesens ebenso begeistert wie für die internationalen Beziehungen, sein altes Faible. Er muss weiterhin als seriöser Mitarbeiter der Ampelregierung an der Verbesserung ihres furchtbaren Images arbeiten. Gleichzeitig muss er es irgendwie schaffen, sich von dieser Ampel zu distanzieren. Es gibt Politiker, die an einfacheren Aufgaben gescheitert sind.
Erschwerend hinzu kommt, dass die Grünen gerade eine ihrer schwersten Krisen der jüngeren Vergangenheit durchleben. Das verheerende Erscheinungsbild der Ampel zieht nicht nur die Bundesgrünen nach unten, sondern schlägt auch auf die Werte in Baden-Württemberg durch. Die Hoffnung der Grünen besteht nun darin, dass Özdemir ein ähnliches Kunststück gelingt wie Kretschmann: sich abzukoppeln von seiner Partei. Gewählt werden, nicht weil man grün ist, sondern obwohl.
Hoffnung macht dem Landesverband die Tatsache, dass laut einer aktuellen Umfrage 44 Prozent der Baden-Württemberger mit Özdemirs Arbeit zufrieden sind. Damit liegt er auf Platz zwei hinter Kretschmann – mit deutlichem Abstand vor dem voraussichtlichen CDU-Spitzenkandidaten Manuel Hagel (17 Prozent). Hinzu kommt, dass Özdemir traditionell starke Wahlergebnisse erzielt hat. Vor allem 2021, als er in seinem Wahlkreis Stuttgart mit knapp 40 Prozent der Erststimmen das Direktmandat gewann. Besser war bundesweit kein anderer Grüner. Aber das ist natürlich Stuttgart, eine Großstadt. Die Frage wird sein, ob Özdemir in Tettnang oder Bad Säckingen ähnlich gut ankommt. Und ob er auf dem Land eine ähnliche Anziehungskraft entfalten kann wie sein Vorbild Winfried Kretschmann.
Am 20. November steht Cem Özdemir bei „SZ im Dialog in Stuttgart“ Rede und Antwort. Außerdem im Live-Interview auf der Bühne: CDU-Landeschef Manuel Hagel. Weitere Infos und Tickets erhalten Sie hier.