Baden-Württemberg:Alle gegen Cem Özdemir

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Er visiert Baden-Württemberg an, aber klappt das auch? Cem Özdemir in seinem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. (Foto: Friedrich Bungert)

2026 endet in Baden-Württemberg die Ära Kretschmann. Die Grünen wollen dann weiter den Regierungschef stellen – aber CDU, FDP und SPD glauben fest an eine neue politische Zeitrechnung.

Von Max Ferstl, Roland Muschel, Stuttgart

Im Foyer des baden-württembergischen Landtags, erster Stock, steht eine Statue aus Bronze. Sie zeigt einen ziemlich ramponierten Reiter, der sich gerade noch so auf seinem Pferd halten kann. „Il Miracolo“ heißt das Kunstwerk, das Wunder, aber die Abgeordneten sprechen einfach nur vom „Pferdle“. Das Pferdle ist ein wichtiger Ort im Stuttgarter Politikbetrieb, wann immer Landespolitiker eine wichtige Angelegenheit zu verkünden haben, dann kommen sie gern zum Pferdle. Hier erklärte 2010 der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU), dass die Landesregierung den Stromkonzern EnBW zurückkaufen wolle. Ein Deal, der sich später zum Skandal entwickelte.

Am Dienstagnachmittag steht nun FDP-Chef Hans-Ulrich Rülke vor dem Pferdle mit dem unbescheidenen Vorsatz, eine neue Ära in der baden-württembergischen Landespolitik einzuläuten. Er wolle Vize-Ministerpräsident werden, kündigt Rülke an. Wieder mitzuregieren, das sei das Ziel für die Landtagswahl 2026. Wie er das anstellen will? Entweder in einer Dreierkoalition mit CDU und SPD oder „noch lieber“ in einer Zweierkoalition mit der CDU. Rülke sagt dies mit so einer Überzeugung, dass man beinahe vergessen könnte, dass die FDP in Umfragen derzeit bei fünf Prozentpunkten liegt.

Im Südwesten hat eine Art Vorwahlkampf begonnen

Die umworbene CDU regiert aktuell als Juniorpartner mit den Grünen und Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Sie wird das voraussichtlich auch noch eineinhalb Jahre tun. Aber seit der Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir Ende Oktober angekündigt hat, der nächste grüne Spitzenkandidat werden zu wollen, hat im Südwesten eine Art Vorwahlkampf begonnen. Die politische Landschaft sortiert sich neu. Welcher potenzielle Kandidat hat welche Schwäche? Wer könnte wem gefährlich werden? Und weil für alle erkennbar die grüne Hegemonie des vergangenen Jahrzehnts dem Ende zustrebt, scheint vieles möglich zu sein. Sogar ein kleines Wunder.

Eine schwarz-gelbe Koalition ist nach Lage der Dinge zwar nicht besonders realistisch, aber ein Traum, den nicht nur Liberale träumen. Von 1996 bis 2011 regierten die beiden Parteien das Land gemeinsam. Und der CDU-Landeschef Manuel Hagel wehrt sich nicht gegen den Eindruck, dass auch er am liebsten an diese gemeinsame Vergangenheit anknüpfen würde. Hagel und Rülke verstehen sich dem Vernehmen nach blendend, duzen sich, waren sogar schon gemeinsam wandern.

Christdemokraten gegen Grüne: aktuell 34 zu 18 Prozent

Bei den Christdemokraten sorgt die Personalie Özdemir zwar durchaus für leichte Kopfschmerzen. Sie wissen um seine Bekanntheit, sein rhetorisches Talent. Aber eigentlich, heißt es im Landesverband, könne man sich nur noch selbst schlagen. 16 Prozentpunkte lagen die Christdemokraten zuletzt vor den Grünen, 34 Prozent zu 18 Prozent. Da müsste schon einiges schieflaufen, damit der nächste Ministerpräsident nicht Manuel Hagel heißt. Der 36-Jährige will sich jedoch allem Anschein nach nicht darauf verlassen, dass ihn die aktuelle Welle einfach so in die Villa Reitzenstein trägt.

Er ist derzeit als eine Art Reiseblogger unterwegs, Berlin, Barcelona, Warschau, in Rom hat er sogar dem Papst die Hand geschüttelt. Ein bisschen wirkt es so, als wolle Hagel mit dem kundigen Welterklärer Özdemir auf dessen Spezialgebiet konkurrieren: der Außenpolitik. Oder zumindest dem geneigten Instagram-Publikum zeigen, dass sein Horizont nicht an den Grenzen Baden-Württembergs endet.

Sogar die SPD glaubt, die Grünen einholen zu können

Özdemir wiederum wird, davon ist auszugehen, in Zukunft verstärkt in Esslingen, Karlsruhe oder Rottweil unterwegs sein. Kurzfristig ist er allerdings in Berlin in einer ungewöhnlichen Doppelrolle gefordert: Nach dem Aus der Ampelkoalition am Mittwochabend soll der Landwirtschaftsminister Özdemir auch das Bildungsressort übernehmen. Seine beste – manche sagen: seine einzige – Hoffnung besteht darin, dass er neben dem vergleichsweise jungen Hagel als die sicherere Wahl erscheint. Als derjenige, der das Land mit seiner Erfahrung kundiger durch die Großkrisen der Welt navigieren kann. Im Gegensatz zu Hagel habe Özdemir seine Regierungsfähigkeit unter Beweis gestellt, heißt es bei den Grünen.

Regierungserfahrung – da werden sie auch in der SPD hellhörig. Ihr Landesvorsitzender Andreas Stoch war in Kretschmanns erster Koalition, einem grün-roten Bündnis, immerhin mal Kultusminister. Viele Jahre haben die Sozialdemokraten kein Mittel gegen diesen Kretschmann gefunden, der laut ihren Analysen nicht nur Konservative zu den Grünen zog, sondern erstaunlicherweise auch Wähler aus dem gemäßigten linken Lager.

Jetzt schauen die Sozialdemokraten auf die Umfragen und sehen durchaus mit Freude, dass sie näher heranrücken an die Grünen. Das liegt zwar weniger an einem rasanten sozialdemokratischen Aufstieg, sondern vor allem am grünen Absturz, aber trotzdem: „Unser Ziel ist es, die Grünen einzuholen. Das halte ich für realistisch“, sagt Stoch. Es sind Sätze, wie man sie in Baden-Württemberg lange nicht gehört hat. 

Am 20. November sind sowohl Manuel Hagel als auch Cem Özdemir bei „SZ im Dialog in Stuttgart“ im Live-Interview auf der Bühne. Weitere Infos und Tickets erhalten Sie hier.

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