Süddeutsche Zeitung

Autonome Kurdenregion im Irak:Eine Insel im Krieg

Als der IS im Irak das Kalifat ausrief, hielten die Peschmerga-Kämpfer dem Ansturm stand. Doch irakische Kurden kämpfen nicht nur gegen die Terroristen, sie nehmen auch Hunderttausende Flüchtlinge auf. Ein Besuch in Erbil.

Von Joachim Käppner, Qushtapa

Dies hier, sagt der alte Mann, "ist eine Insel. Eine Insel in einem Meer aus Hass." Er meint nicht seinen Laden, eine fröhliche Mischung aus Kram, Spielsachen, Schulheften und bemerkenswertem religiösen Kitsch wie beleuchtbaren Marienstatuen. Er meint seinen Stadtteil, Ainkawa, am Rand der kurdischen Großstadt Erbil nahe dem Flughafen gelegen. Ainkawa ist das christliche Viertel, eine blau bemalte Muttergottes bewacht die Hauptstraße. Aber nur 40 Kilometer von hier, sagt der Alte, "da lauern sie, uns allen die Hälse abzuschneiden."

Manchmal sind sie noch viel näher. Vor wenigen Tagen sprengte sich ein Selbstmordattentäter mitten in Ainkawa in die Luft, nahe dem US-Konsulat, es gab mehrere Tote. Die Botschaft der IS-Terroristen, die sich zu dem Anschlag bekannten, war eindeutig: Ihr seid nirgends sicher, wir finden euch überall - euch Andersgläubige, euch Andersdenkende. Das gilt allen in Ainkawa, auch den Tausenden Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, die hier in Behelfslagern, Schulen und Privathäusern Zuflucht fanden.

Die Insel ist bedroht, das Meer des Hasses nah gekommen wie eine Sturmflut. Als der IS 2014 auch im Irak das Kalifat ausrief und weite Gebiete überrannte, hielten die Peschmerga-Kämpfer der Kurden dem Ansturm gerade noch stand, mithilfe einer internationalen Koalition, die Waffen, Ausbilder und notfalls Kampfflugzeuge schickt. Seitdem halten sie eine feste Frontlinie, auch mithilfe deutscher Gewehre und Milan-Panzerabwehrraketen. Die Peschmerga beschützen nicht nur ihr halbwegs demokratisch regiertes Land, sondern auch Heerscharen von Flüchtlingen.

Noch größer als die militärische Leistung angesichts eines überlegenen Gegners - der IS hat von der irakischen Armee moderne Geländefahrzeuge, Panzer und Geschütze erbeutet - ist nämlich die humanitäre. Mehr als 1,5 Millionen Flüchtlinge haben die Kurden binnen eines knappen Jahres aufgenommen: Landsleute aus Syrien und dem Irak, Jesiden, Christen, Schiiten und sunnitische Araber. Das sind, im Verhältnis zur Bevölkerung von fünf Millionen, mehr Flüchtlinge als im Westen Deutschlands 1945.

Es gab kein Zurück

Das Flüchtlingslager Qushtapa. Eine grüne Ebene, in der Ferne schimmern die Berge Kurdistans. Es ist keines der großen Camps, 1300 Familien leben offiziell hier. Mohammed A. ist Kurde aus Syrien, er verteilt mit einem motorisierten Dreirad Hilfspakete; ein Job, immerhin. Wenn er zurückdenkt, glaubt der junge Handwerker, es habe schon vor dem Unheil Zeichen gegeben, "als ob Gott den Menschen zeigen wollte, dass er sie strafen wird": schlechte Ernten, kein Regen. Dann kamen die Männer mit den schwarzen Masken. Sie sprangen von Jeeps und durchkämmten A.s Dorf, Straße für Straße.

"Man sah nur ihre Augen hinter den Motorradmasken", sagt er, und in diesen Augen stand nichts Gutes. Die kurdischen Bewohner wussten erst nicht, was die schwerbewaffneten Fremden suchten: "die jungen Männer - eigentlich alle zwischen 16 und 40 Jahren." Die Armee des syrischen Diktators Baschar al-Assad hatte Soldaten geschickt, um kurdische Männer zwangszurekrutieren. Die meisten von ihnen flohen, auch A. setzte sich über die Grenze in die kurdische Autonomieregion des Irak ab. "Entweder hätte ich für Assad töten müssen oder wäre von seinen Leuten getötet worden." Es gab kein Zurück.

Es ist schwer möglich, die Erzählungen der Flüchtlinge zu überprüfen. Aber sie entsprechen den erschütternden Berichten der UN über deren Leid in den zerfallenden Staaten Syrien und Irak: verfolgt, ausgeplündert, zwischen die Fronten geraten, vertrieben und massakriert, weil sie der falschen Religion, der falschen Ethnie angehören. Der IS tötet Christen und Jesiden, verkauft Mädchen als Sklavinnen und hat ein Regime des Schreckens errichtet.

Das Lager Qushtapa ist ein Zufluchtsort. Eine staubige Zuflucht, der Boden aus Lehm, im Winter bleiben die Schuhe im Schlamm stecken. Müll liegt in einem Rinnsal. Die kleine Stadt aus Zelten und Containern wirkt eintönig, auch wenn Kinder in den Gassen Ball spielen. Und dennoch: Die sanitären Anlagen funktionieren, die Kinder gehen zur Schule in ein nagelneues Gebäude, es gibt eine medizinische Grundversorgung und die Möglichkeit zu arbeiten.

Karwan Baban, Verbindungsoffizier der Peschmerga und der kurdischen Autonomieregierung unter Präsident Massud Barsani zu den internationalen Helfern, sagt: "In Lagern, in denen sich über 20 000 Menschen drängen, ist die Lage viel schlimmer als hier." Manche Familien hausen provisorisch auf Baustellen in den Städten, und so viele Schulen wurden für Neuankömmlinge frei gemacht, dass vielerorts der Unterricht zum Erliegen kam. Ein deutscher Soldat sagt in Erbil den bemerkenswerten Satz: "Hier hilft ein ganzes Land. Und bei uns demonstrieren Leute, weil sie Angst haben, dass ihnen Flüchtlinge im Supermarkt ein paar Tütensuppen wegkaufen."

In Qushtapa hat Hasan N. einen kleinen Laden aufgemacht, für Damenausstattung. Es gibt nur wenige Geschäfte hier, Friseure, Imbisse, Haushaltswaren, Lebensmittel und sogar eine Hütte für Hochzeitsmoden. Doch kaum jemand hat Geld, die Geschäfte gehen schlecht, auch für Hassan N. Mehr als ein Jahr ist es her, seit er sein Dorf verließ, in der Kurdenregion Syriens nahe der türkischen Grenze. "Es gab Kämpfe zwischen dem IS und der PKK", sagt er, sein Haus sei zerstört, seine Eltern tot. Mit Frau und fünf Kindern schaffte es der 45-Jährige über die Berge ins freie, das irakische Kurdistan.

Menschen, die es nicht aus dem IS-Kalifat heraus schaffen, erhalten kaum Hilfe

In die viel nähere Türkei wollte er nicht gehen. N. schwört, selbst gesehen zu haben, dass die Türken IS-Kämpfer durch ihr Staatsgebiet geschleust hätten, sodass sie sein Dorf von der Grenze aus angegriffen hätten, wo die Verteidiger sie nicht erwarteten. Die kurdischen Milizen dort gehören meist zur marxistischen PKK, die im Westen wesentlich weniger gelitten ist als Präsident Barsanis irakisch-kurdische Demokratische Partei Kurdistans (DPK).

N.s Dorf ging verloren: "Sie hatten viele Waffen, sogar Panzer, unsere Kämpfer besaßen keine." Nein, er fühlt sich hier nicht wohl, natürlich nicht. "Jeder Mensch möchte zurück nach Hause", sagt er. N. ist nierenkrank, aber er will nicht klagen, am wenigsten über seine Gastgeber: "Kurdistan hat sehr viel für uns getan. Die Menschen sind so hilfsbereit." Auch Oberst Baban ist einmal geflohen, 1974 aus dem Irak, hinüber nach Iran. Da war er erst neun, ein verängstigtes Kind, das nicht verstand, warum die Großen immer streiten und kämpfen. Er brach sich ein Bein; die Leute trugen ihn kilometerweit zum Arzt. "Die meisten Kurden haben so etwas erlebt", sagt der Oberst, der lange in Deutschland lebte, "deshalb ist die Hilfsbereitschaft so hoch."

Auch drüben im "Kalifatstaat" gibt es Flüchtlinge, Entwurzelte eines archaischen, nicht enden wollenden Krieges, für Helfer kaum oder gar nicht erreichbar. Nach Geheimdienstinformationen hat der IS Panzer und Kanonen in Flüchtlingscamps gestellt: So können die Bomber der Koalition nicht angreifen, ohne ein Massaker unter Unschuldigen anzurichten. Experten bezweifeln, dass der IS so geschwächt ist, wie Iraks Zentralregierung in Bagdad behauptet. Deren Streitkräfte haben zwar unter Mühen die Stadt Tikrit zurückerobert; aber Ramadi in der nahen Provinz Anbar steht vor dem Fall, von dort strömen neue Flüchtlinge zu den Kurden.

Immerhin, diese seien "bestens organisiert", sagt Markus Hermann (Name auf Wunsch der Bundeswehr geändert; SZ), ein Verbindungsoffizier der Bundeswehr in Erbil, "es ist wirklich bewundernswert, was diese kleine Region für Menschen in Not leistet." Die Peschmerga untersuchen jeden Ankömmling aufs Gründlichste und nehmen die Personalien auf, verteilen die meisten auf die Behelfsunterkünfte. Dennoch, sagt der Peschmerga-Offizier Baban, "wissen wir um die Gefahr von Schläfern". Es gibt sunnitisch-arabische Dörfer im Kurdengebiet und viele Flüchtlinge aus dieser Volksgruppe. Seit im November der Flughafen Erbil von kurdischem Gebiet aus beschossen wurde, wächst das Misstrauen zwischen den Völkern. Human Rights Watch beklagt bereits Repressalien gegen arabische Flüchtlinge, ein Keim neuer Zwietracht wächst.

Viele der Hergekommenen sind bereits weiter ins Ausland gezogen. Tausende gingen aber auch einfach heim in ihre Dörfer und Städte, sobald die Peschmerga den IS ein Stück weit zurückgeworfen hatten. "Doch oft ist alles zerstört", sagt Hermann, "es gibt kein Wasser, keinen Strom, die Wege sind vermint." Und für die Hilfsorganisationen sind die Rückkehrer so nahe an der Front schwer zu erreichen.

Doch selbst wenn UN, internationale und kurdische Organisationen ihr Möglichstes tun: Auch das Leben im Lager wird für viele zur Qual. Ein Mann in Qushtapa bringt seinen Sohn, zeigt Wunden am Rücken: Das Kind habe einen Tumor an der Wirbelsäule, sagt er, "es braucht dringend eine Operation." Eine Mutter von sieben Kindern holt einen ihrer Jüngsten: Sein Darm ist beschädigt, er müsste schnell in die Klinik. In einem Zelt liegt ein junger Mann auf einem Lager aus Teppichen; Opfer eines Luftangriffs in Syrien, sagt die Familie, er kann die Beine nicht bewegen.

Die sinkende Sonne bescheint ein Land wie im Frieden: Draußen vor dem Lager stehen Pferde auf grünen Weiden, Männer kehren von der Arbeit heim, ein Muezzin ruft. Der Schrecken, vor dem so viele Menschen geflohen sind, ist nur ein paar Kilometer entfernt, jenseits des großen Panzergrabens vor Erbil, jenseits der vorderen Frontlinie. Dahinter wehen die schwarzen Fahnen des IS, der "Dash", wie die Kurden sagen. "Aber die Dash können nicht herkommen", sagt die Mutter von sieben Kindern. "Hier werden wir beschützt." Fürs Erste jedenfalls.

Mohammed A. hat in Qushtapa eine junge Frau kennengelernt, sie haben geheiratet. Das Leben gehe seltsame Wege in diesem Land, sagt er, "Allah schenkte mir großes Glück mitten im großen Unheil". Nur der Hochzeitsladen in Qushtapa hatte nichts davon: "Zu teuer", sagt A. "Den Anzug hat mir mein Vetter geliehen."

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Quelle:
SZ vom 02.05.2015
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