Autobiografie:Plötzlich Kopftuch

Leseprobe

Einen Ausschnitt aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Die Kindheit und Flucht der iranischen Autorin Mehrnousch Zaeri-Esfahani, die nach dem Sturz des Schahs mit ihren Eltern und Brüdern flieht. Über die Türkei und die DDR kommt sie schließlich nach Deutschland.

Von Hilde Elisabeth Menzel

Die Bewohner Isfahans lieben ihren Fluss Zayandeh Rud mit seinen vielen Brücken. Die schönste unter ihnen ist vierhundert Jahre alt und heißt Si-o-se-Pol, die 33-Bogen-Brücke, auf der Teehäuser zum Verweilen einladen. "Hier feierten, schlenderten, sangen, trommelten und tanzten die Isfahani." Auch für das kleine Mädchen Mehrnousch war die Brücke "mein liebster Platz in unserer Stadt". Mit dem Titel ihres autobiografischen Romans hat die Autorin diesem Ort ihrer frühen Kindheit ein Denkmal gesetzt.

Unter den vielen Fluchtgeschichten, die die Kinder- und Jugendliteratur in diesem Jahr bereichern, fällt Mehrnousch Zaeri-Esfahanis Geschichte aus dem Rahmen. Denn die in Iran geborene Autorin schreibt in deutscher Sprache, in der sie einen ganz eigenen, zugleich schlichten wie poetischen Erzählton gefunden hat. Nach ihrer Muttersprache Persisch und ihrer ersten Fremdsprache Türkisch, mit der sie sich in Istanbul, der ersten Station ihrer Flucht, verständigte, lernte sie erst mit zwölf Jahren Deutsch. In ihrer frühen Kindheit in den 1970er-Jahren ging es Mehrnousch und ihren drei Geschwistern gut. Ihr Vater gehörte als Arzt zur privilegierten Schicht Isfahans, und die Kinder hatten eine behütete, glückliche Kindheit. Als der Ajatollah Chomeini 1979 die Macht übernahm und den unbeliebten Schah aus dem Land jagte, freuten sich die Menschen zunächst, doch schon bald merkten sie, dass der neue theokratische Führer sie aller ihrer Freiheiten beraubte. Selbst kleine Mädchen mussten plötzlich Kopftuch tragen, und am Abend vor ihrer Einschulung schnitt Mehrnouschs Mutter ihr ihre wunderschönen langen Haare ab. "An jenem grauen Abend wurde mir nicht einfach nur ein Zopf abgeschnitten. Ganz tief in mir wurde etwas abgetrennt, wofür ich keinen Namen hatte, sondern nur eine Erinnerung."

Aus heutiger Sicht ist diese Familie ein Beispiel gelungener Integration

Als dann der Krieg mit dem Irak ausbrach und Chomeini befahl, alle Jungen ab zwölf zu rekrutieren, darunter auch Mehrnouschs Bruder, floh die Familie, zunächst in die Türkei. Die Weiterreise nach Berlin ein Jahr später liest sich wie ein makabrer Witz der Geschichte, denn ausgerechnet der Ost-West-Konflikt der 1980er-Jahre verschaffte der Familie eine Flugreise nach Ostberlin samt Visum für die DDR für 30 Stunden, mit anschließender Abschiebung nach Westberlin. Dort allerdings beginnt eine Odyssee durch Flüchtlingsheime, die den heutigen Zuständen ähnlich ist, und es dauert lange, bis die Familie sich in Deutschland heimisch fühlte.

Sehr berührend erzählt die Autorin, konsequent aus kindlicher Sicht, von Abschied, Verlust und Verzweiflung, aber auch, wie die Familie, vor allem die vier Geschwister, trotzdem immer wieder Freude empfinden am Spiel, am Lernen, an Begegnungen mit den neuen Mitbürgern. Aus heutiger Sicht ist diese Familie aus Iran trotz aller Widerstände ein Beispiel gelungener Integration. Die wunderschöne Ausstattung des Buches mit Vignetten vor jedem Kapitel stammt vom Bruder der Autorin: Mehrdad Zaeri-Esfahani, der ein bekannter Illustrator ist. Er war einer der 30 Künstlerinnen und Künstler, die auf der Kinderbuchmesse in Bologna im April 2016 die deutsche Illustrationskunst in einer Ausstellung auf dem Messegelände repräsentierten. (ab 11 Jahre)

Mehrnousch Zaeri-Esfahani: 33 Bogen und ein Teehaus. Vignetten von Mehrdad Zaeri-Esfahani. Knesebeck 2016. 148 Seiten, 14,90 Euro.

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