Süddeutsche Zeitung

Autobahnen:Stau, ganz ohne Autos

Fledermäuse, ein Fähren-Betreiber und ein Seeadler blockieren seit Jahren den Weiterbau der A20.

Von Thomas Hahn, Bad Segeberg

Der Weg zur Straße ist lang und steinig, und er führt über das enge Büro von Florian Gloza-Rausch, das mit Blick auf den Kalkberg von Bad Segeberg im Fledermaus-Zentrum Noctalis liegt. Eigentlich ist das seltsam, denn der Biologe Gloza-Rausch hat mit der Planung des Landes Schleswig-Holstein für eine neue A 20 nichts zu tun. So sehr hält er Distanz zu dem Projekt, dass er nicht mal sagen mag, ob er es gut findet, dass die sogenannte Ostsee-Autobahn eines Tages auch über Bad Segeberg hinaus und unter der Elbe hindurch Richtung Südwesten verlaufen soll. Trotzdem steckt er drin in dem Vorhaben. Denn ohne seine Arbeit geht es nicht weiter. Die Autobahn darf keine Gefahr für die Fledermäuse sein, die mit Vorliebe in den Segeberger Kalkhöhlen überwintern. Gloza-Rausch und seine Kollegen liefern die Daten zu der Frage, wie das gelingen kann. Sie sind sozusagen das Gewissen der Fledermäuse in dieser Geschichte von einer Straße, die es noch gar nicht gibt.

Straßen sind die Lebensadern der Mobilität. Die Erkenntnis, dass Fahrzeuge einen festen Untergrund brauchen, muss so alt sein wie die Erfindung des Rades im vierten Jahrtausend vor Christus. Schon die alten Römer legten Europa unter ein Straßennetz. Und heute bringen zwar auch Schienenverkehr und Luftfahrt Menschen und Güter übers Land. Aber nur die Straße verbindet selbst entfernteste Käffer mit dem Rest der Welt.

Die Frage ist nur: Braucht es noch neue Straßen? 231 000 Kilometer Straße gibt es in Deutschland - ohne Gemeindestraßen. Ist damit das Land nicht zugepflastert genug? Sollte man den restlichen Boden nicht schützen vor den grauen Pisten des Abgase schleudernden Autoverkehrs?

Im Grunde schon, sagt selbst Schleswig-Holsteins Verkehrsminister Reinhard Meyer (SPD): "Deutschland hat einen guten Ausbausstand, wir wollen mehr in die Erhaltung des Bestehenden stecken." Begehrlichkeiten gibt es trotzdem noch, gerade im Norden, nachdem der Bund in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in Verkehrsprojekte in Ost und Süd investierte. Die Verlängerung der A 20 gehört dazu, für eine flüssigere Anbindung an Westküste und Ruhrgebiet. Sie ist eines der wenigen Straßenneubau-Projekte, das der Bundesverkehrswege-Plan 2030 mit "vordringlichem Bedarf" ausweist - und ein Beispiel dafür, wie kompliziert es geworden ist, eine Straße zu bauen.

Ihr erster Teil durch Mecklenburg-Vorpommern entstand als Projekt der Deutschen Einheit von 1992 an. Der Bau wurde per Investitionsmaßnahmegesetz durchgebracht. Der Bund investierte, Aufbruchstimmung herrschte. 2005 waren die 300 Kilometer vom Kreuz Uckermark in Brandenburg bis nach Lübeck fertig, nach relativ kurzer Bauzeit also. "Damals wollte man diese Straße", sagt Torsten Conradt, Direktor des Landesbetriebes für Straßenbau und Verkehr in Kiel. Über die West-A 20 kann er das so nicht sagen.

Straßenbau findet vor allem in Gerichtssälen und in Büros von Sachverständigen statt

Conradt sitzt in seinem nüchternen Büro nahe der Förde und lässt sich nicht anmerken, wie sehr es ihn nervt, dass das Projekt West-A 20 nur stockend vorankommt. 1995 schon hat er die verkehrswirtschaftliche Untersuchung für die 70 Kilometer von Bad Segeberg zur Elbe auf den Weg gebracht, um 2000 war der Verlauf der Trasse klar. Seither tobt ein detailreicher Kampf. Der deutsche Rechtsstaat macht's möglich, der es sich nicht zu einfach machen will mit dem knappen Raum zwischen den bestehenden Straßen.

Wenn man Conradt fragt, was es heutzutage brauche, um eine Straße zu bauen, zählt er nicht Baugeräte oder Ingenieursleistungen auf. Sondern er sagt: "Sie brauchen den breiten politischen Konsens im betroffenen Bundesland. Sie brauchen einen langen Atem. Sie müssen die Straßenbauverwaltung mit Mitteln und Personal ausstatten, damit Sie alle Voraussetzungen für einen Baubeginn abarbeiten sowie Bürger und Verbände einbinden kann."

Straßenbau findet heute vor allem in den Köpfen statt, in Gerichtssälen, auf Erörterungsterminen, in Sachverständigen-Büros. Es gibt so viel zu erledigen, ehe der erste Bagger rollen kann: Aufnahme in den Bedarfsplan. Linienbestimmung. Plan der Autobahnabschnitte. Genehmigung vom Bund. Planfeststellungsbeschluss. Und dann geht es erst richtig los am grünen Tisch, denn gegen den Beschluss darf man sich wehren. Allein der 1,1 Milliarden Euro teure Tunnel, der die A 20 bei Glückstadt unter der Elbe hindurchführen soll, hat dem Land Schleswig-Holstein 553 Einwendungen und 22 private Klagen eingebracht. Unter anderem klagte der Betreiber der Fähre Glückstadt-Wischhafen, der um seine Existenz bangt. Der Kreis Steinburg und die Gemeinde Kollmar wollten den Brandschutz im Tunnel nicht übernehmen. Und die Umweltverbände sorgen sich um das weite Feld des Natur- und Artenschutzes.

Letzteres verspotten manche Wirtschaftsfreunde als Intrige weltfremder Haselmaus-Freaks. Aber damit greifen sie zu kurz, wie man bei Florian Gloza-Rausch im Fledermaus-Zentrum lernt.

Beim Thema A 20 will Gloza-Rausch nicht den Fledermaus-Lobbyisten geben. Er spricht über Tatsachen, und Tatsache ist, dass die Kalkberghöhle von Bad Segeberg der wichtigste Fledermaus-Anflugpunkt in Norddeutschland ist und europaweite Bedeutung genießt. 25 000 Tiere überwintern hier, darunter auch seltene wie die Bechsteinfledermaus. Aber die A 20 soll zwei Kilometer südlich von der Höhle verlaufen. Ein Viertel aller Fledermäuse, die ins Winterquartier wollen, werden sie kreuzen, schätzen die Experten.

Die Umweltschutzverbände klagten, und im Herbst 2013 entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass der Kieler Landesbetrieb die Belange der Fledermäuse zu wenig berücksichtigt habe. Ein neuer Plan musste her. Gloza-Rausch und seine Kollegen bekamen vom Land den Auftrag, Fledermäuse zu zählen, entlang der Trasse und am Berg. Das haben sie 2014 mit viel Aufwand getan. Nach den Ergebnissen will das Land nun die Planung so ergänzen, dass die A 20 an den richtigen Stellen durchlässig wird für die Fledermäuse, entweder durch Unterführungen oder Brücken. Gloza-Rausch sagt: "Für jeden Zentimeter der Autobahn muss man eine Aussage über den Fledermausschutz machen können."

Zu viel des Guten für so ein kleines Tier? Gloza-Rausch versteht die Frage, sie stellt sich nur nicht mehr. "Wir haben uns in Europa darauf geeinigt, dass wir die Natur in einer bestimmten Weise erhalten wollen." Die EU setzt dem Fortschritt Grenzen durch ihre Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie von 1992. Daraus leitet sich Natura 2000 ab, ein Netzwerk aus Gebieten, in denen Europas Natur und Tierarten wie eben die Fledermaus unter Schutz stehen. Die neue A 20 zerschneidet solche Gebiete. "Das schlägt sich dann in jedem Planungsprozess nieder", sagt Gloza-Rausch.

Geld für die Infrastruktur

Der Bund investiert 2016 7,4 Milliarden Euro in seine Fernstraßen - so viel wie nie zuvor.

Straßenbaudirektor Conradt ist überzeugt vom Wert der A 20, deshalb erträgt er das zähe Ringen. Spätestens 2017 soll das Thema Fledermäuse vom Tisch sein. Nachbessern muss seine Behörde außerdem nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts Ende April bei der Elbquerung, weil der Gewässerschutz für die Öffentlichkeit nicht gut genug nachvollziehbar war. Und Mitte 2015 wurde bei Glückstadt der Brutversuch eines Seeadlers gemeldet, was den Plan für den A 20-Abschnitt sieben zum dritten Mal hinfällig machte. 2017 soll der neue vorliegen.

Etwas unleidlich ist Conradt wegen der A 20-Gegner: "Man sollte gemeinsam versuchen, Projekte zu gestalten. Bei der A 20 haben wir das an keinem Abschnitt geschafft." Den Umweltverbänden wirft er vor, dass sie den Straßenbau nur verhindern oder verzögern wollten. Die widersprechen und verweisen auf ihre Aufgabe, die Natursünden so gering wie möglich zu halten. "Wir haben kein Verhinderungsrecht, wir haben ein Anpassungsrecht", sagt Ingo Ludwichowski, Geschäftsführer des Nabu, der mit BUND und Landesnaturschutzverband die teuren Klagen gegen die A 20 betreibt. Und in dieser Hinsicht gibt der Direktor dem Umwelt-Vertreter sogar recht. Der Straßenbau ist langsam, aber unaufhaltsam. "Irgendwann", sagt Torsten Conradt, "wird es die A 20 geben."

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Quelle:
SZ vom 04.06.2016
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