Auswertung Wahl-Thesentest:Diese Gesellschaft wünschen sich deutsche Abgeordnete

Ist unser Bildungssystem gerecht? Braucht Deutschland nach den NSU-Morden einen neuen Verfassungsschutz? Darf die Energiewende zu höheren Strompreisen führen? 600 Abgeordnete aller Parteien aus Bund und Ländern haben geantwortet. Das Ergebnis in der Auswertung des Wahl-Thesentests.

Von Martin Anetzberger

Wo verläuft das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit? Wie sieht moderner Umweltschutz aus? Für wie gerecht halten die Abgeordneten der Parteien Hartz IV? Und was muss Deutschland noch in Sachen Frauenförderung tun? Im ersten Teil der Auswertung des Wahl-Thesentest der SZ geht es um das Feld der Innen- und Gesellschaftspolitik.

Fast 600 Abgeordnete aus Bund und Ländern haben beim Wahl-Thesentest von Süddeutsche.de mitgemacht. Sie hatten wie Sie die Möglichkeit, zu den von uns formulierten Thesen auf einer Skala von 0 ("Ich stimme absolut nicht zu") bis 100 ("Ich stimme absolut zu") Stellung zu beziehen. Die Zwischenstufen "Ich stimme eher nicht zu", "Ich bin unentschieden" und "Ich stimme eher zu" wurden zur Berechnung durch die Werte 25, 50 und 75 ersetzt. Anschließend berechneten wir für jede Partei den Durchschnitt, das arithmetische Mittel. Je höher dieser Mittelwert, desto größer die Zustimmung der Abgeordneten einer Partei zu einer bestimmten These. Hier die Ergebnisse zu den persönlichen Fragen.

Innere Sicherheit: Alle gegen die Union

"Multiples Behörden-Versagen, ein historisch beispielloses Desaster", sagte der SPD-Politiker Sebastian Edathy, als er den Bericht des Untersuchungsausschusses zum NSU-Terror vorstellte. Ein Bericht, der von allen Parteien im Bundestag mitgetragen wird. Wie steht es vor diesem Hintergrund um das Vertrauen in den Verfassungsschutz? Die Unions-Politiker stehen ihm weiter positiv gegenüber. Die Aussage "Deutschland braucht einen völlig neuen Verfassungsschutz" kommt bei ihnen nur auf einen Zustimmungswert von durchschnittlich 21 (CSU) beziehungsweise 24 (CDU). Bei Grünen (89), und SPD (76) ist eine deutlich höhere Skepsis gegenüber dem Inlandsgeheimdienst feststellbar, die FDP liegt bei 44 Punkten. Der überraschend niedrige Durchschnittswert der Linken (67) kann so erklärt werden: Einige Abgeordnete der Partei sind für eine Abschaffung des Verfassungsschutzes - ablesbar an den Kommentaren - und lehnten die These deshalb ab.

Bei den Statements zur Verbrechensaufklärung heben sich Parlamentarier von CDU und CSU ebenfalls deutlich von den restlichen Befragten ab und zeigen sich am ehesten bereit, den Ermittlungsbehörden mehr Kompetenzen einzuräumen. Mit Mittelwerten von 75 oder mehr sind sie DNA-Massentests gegenüber wesentlich aufgeschlossener als andere, die SPD erreicht immerhin 61 Punkte. Einige ihrer Abgeordneten betonen die Zustimmung zum gesetzlichen Status Quo, wonach eine derartige Untersuchung richterlich angeordnet werden muss und nur auf freiwilliger Basis erfolgen darf. Ähnliche Ergebnisse lieferte die Aussage, dass die Polizei leichter auf digitale Verbindungsdaten zugreifen können müsse - das also, was die umstrittene Vorratsdatenspeicherung ermöglichen sollte. Hier zeigt sich eine noch größere Kluft zwischen Union (75 Punkte) und anderen Parteien. Den niedrigsten Wert erreichen die Piraten (1), doch auch Grüne, Linke und die FDP halten mit Werten um die 20 Punkte eher wenig von einer Ausweitung der Polizeibefugnisse. Die SPD (37) ist ebenfalls skeptisch.

Umweltthemen: Linke und Grüne profilieren sich

Die Energiewende ist nach dem Atomunglück von Fukushima zwar beschlossene Sache, doch Deutschland produziert noch Strom in Atomkraftwerken und damit auch Atommüll. Sollte dieser ins Ausland exportiert werden dürfen? Die meisten Abgeordneten von Grünen, Linken und SPD sind strikt dagegen. Ihr mittlerer Zustimmungswert liegt bei acht, neun beziehungsweise 15 Punkten. Das bürgerliche Lager pendelt sich bei Werten zwischen 48 (CDU) und 58 (FDP) ein. Piraten und Freie Wähler positionieren sich tendenziell ablehnend.

Neben dem Tempolimit (siehe gesonderten Punkt) ist auch der Benzinverbrauch ein Kernthema beim Umweltschutz, bei dem die Europäische Union zunehmend Druck macht. Deshalb konfrontierten wir die Abgeordneten mit der Aussage: "Beim Autokauf sollte niedriger Spritverbrauch das entscheidende Kriterium sein." Von den Befragten der Grünen erhielten wir mit 88 Punkten den höchsten Zustimmungswert. Knapp dahinter rangieren Linke (83), Piraten (80) und schließlich die SPD (78). Die Unionsparteien kommen auf etwa 60 und liegen damit noch im Bereich der leichten Zustimmung. Die FDP landet durchschnittlich bei 43. Viele Abgeordnete nannten zudem Sicherheit als entscheidendes Kaufkriterium.

Wesentlich undurchsichtiger sind die Ergebnisse beim Statement "Die Energiewende darf zu höheren Strompreisen führen". Am ehesten können sich damit Grüne und Piraten anfreunden - ihre Abgeordneten erreichen einen durchschnittlichen Wert von jeweils 68. Im Mittelfeld liegen fast gleichauf die Volksparteien CDU, CSU und SPD (etwa 50). FDP und Linkspartei erreichen hier mit 30 Punkten ausnahmsweise einen nahezu identischen Wert. Die Ergebnisse für diese Frage sind allerdings mit Vorsicht zu genießen. Die Kommentare der Abgeordneten zeigen, wie heftig umstritten die Umsetzung der Energiewende ist. Außerdem fällt es den Politikern schwer, die tatsächlichen Kosten der Energiewende einzuschätzen und vorherzusagen, wie sich die Strompreise kurz- und langfristig entwickeln werden. Der Themenblock zeigt, dass sich Linkspartei und die Grünen über die Umweltthemen und den Kampf gegen die Atomenergie und ihre Folgen profilieren. Die SPD verhält sich etwas zurückhaltender. Beim sozial brisanten Thema Strompreise bewegt sie sich auf einem Niveau mit der Union.

Tempolimit: Extreme Abweichungen zwischen den Parteien

Tempolimit: Für Grüne und Linke wäre es ein wichtiger Beitrag zum Umweltschutz und die Verkehrssicherheit, für die bürgerlichen Parteien ein unberechtigter Eingriff in die Selbstbestimmung: eine generelle Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen (wie zum Beispiel in Österreich). Die Grünen erreichen im Schnitt einen Wert von 92. Deutlich im zustimmenden Bereich liegen auch noch die Linken (82). SPD und Piraten reihen sich mit 61 und 44 Punkten in der Mitte ein. Im bürgerlichen Lager erreicht die Ablehnung bei der FDP mit sieben ihr Maximum. Wenig begeistert von einem Tempolimit sind auch die Parlamentarier der CSU (9), CDU (13) und der Freien Wähler (20). Einige Abgeordnete der Union verweisen auf ohnehin sichere Autobahnen in Deutschland.

Frauenquote: Liberale Total-Ablehnung

Ohnehin ein Zankapfel zwischen den Parteien und jetzt auch Wahlkampfthema - die verpflichtende Frauenquote in großen Unternehmen. Auch hier zeigen die Abgeordneten von Grünen und Linken mit Mittelwerten von um die 90 die größte Zustimmung, die SPD folgt mit 86 auf dem dritten Platz. Im Mittelfeld liegen Piraten (58) und Freie Wähler (40). CSU und CDU liegen bei etwa 25 Punkten. Der FDP-Mittelwert von sieben zeigt die strikte Verweigerung der Liberalen gegenüber einer gesetzlichen Regelung.

Bürgerliche sind zufriedener mit dem Status Quo

Soziale Ungleichheit: Bürgerliche zufriedener mit dem Status Quo

Chancengleichheit bei der Bildung gilt als eines der Schlüsselkriterien für eine gerechte Gesellschaft. Wie es in Deutschland um sie bestellt ist, dazu haben unsere Befragten sehr verschiedene Ansichten. SPD, Grüne und Linke sehen erhebliche Defizite und kommen auf Werte zwischen 13 und 17. Die Freien Wähler (38) und die Piraten (23) sind ebenfalls eher skeptisch.Ganz anders die CDU und die FDP, deren Mittelwerte bei mehr als 70 liegen - bei der CSU beträgt der Schnitt sogar 89.

Verbesserungen fordern viele Befragte auch beim Thema Krankenkassen. Sollen sich alle Bürger gesetzlich krankenversichern, um das soldarische Gesundheitswesen zu erhalten? Den höchsten Zustimmungswert liefern hierzu die Abgeordneten der Linken mit 93 Punkten. Auch SPD und Grüne liegen mit mehr als 80 im oberen Bereich der Zustimmungsskala. Dahinter rangieren Piraten (68) und Freie Wähler (50). Im ablehnenden Bereich findet man CSU (42) und CDU (33). Die FDP, traditionell Anhänger der Privaten Krankenversicherung, lehnt die These mit einem Wert von 17 Punkten am vehementesten ab. Bei diesen Themen zeigt sich vor allem die im bürgerlichen Lager eher verbreitete Zufriedenheit mit dem gesellschaftlichen Status Quo.

Eine ähnliche Verteilung liefern auch die Antworten zur Aussage "Der Grundsatz 'Eigentum verpflichtet' hat in unserer Gesellschaft einen zu geringen Stellenwert".Linke und SPD zeigen hier die größte Zustimmung, es folgen Grüne, Piraten, Freie Wähler und schließlich CDU/CSU und die FDP. Die Einschätzung des Hartz-IV-Satzes fördert ähnliche Ergebnisse zu Tage.

Gesellschaftlicher Wandel: Konservativ heißt Bewahren

Wie aufgeschlossen sind die Parteien gegenüber einer Gleichberechtigung der Homo-Ehe, der Zuwanderung oder einer Stärkung der plebiszitären Demokratie? Bei diesen Fragen nehmen die Unionsparteien jeweils die vorsichtigste Position ein. So erreichen CDU und CSU beim Statement "Gleichgeschlechtliche Partnerschaften sollten steuerlich gleichgestellt werden" lediglich einen Wert von 56 beziehungsweise 47. Alle anderen Parteien liegen mit Werten zwischen 96 und 99 fast bei einer absoluten Zustimmung, mit Ausnahme der Freien Wähler (73). Die dennoch relativ hohen Werte in der Union könnten darauf zurückzuführen sein, dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, dass eingetragene Lebenspartnerschaften gegenüber der Ehe steuerlich nicht benachteiligt werden dürfen.

Beim Thema "Deutschland braucht mehr Zuwanderung" haben CSU und CDU mit 43 und 65 Punkten ebenfalls die niedrigsten Mittelwerte, hier sind die Abgeordneten der anderen Parteien aber auch zurückhaltender. SPD (79) und FDP (78) liegen nahezu gleichauf. Linke (85) und Grüne (90) stimmen am stärksten zu.

Bei der Frage, ob in Deutschland Volksentscheide auf Bundesebene ermöglicht werden sollten, zeigen ebenfalls die Unionsparteien die größte Skepsis: Die CDU liegt mit 19 Punkten deutlich im ablehnenden Bereich unserer Skala, die CSU bei 30. In einigen Kommentaren aus der Union kommt der Wunsch zum Ausdruck, die repräsentative Demokratie in ihrer jetzigen Form zu bewahren. Außerdem fürchten einige Abgeordnete, dass Populisten Volksentscheide instrumentalisieren könnten. Das Mittelfeld bilden hier FDP (46) und SPD (62). Wesentlich aufgeschlossener sind die Grünen (81), die Freien Wähler (88) und die Linke (90). Den Spitzenwert erreichen bei dieser These die Piraten mit 94 Punkten.

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