Schattenspiele gehören zur Welt der Agenten. Geheimnisvolle Dienste lancieren geheimnisvolle Geschichten - richtige und fingierte - von "Desinformazija" sprechen die Russen. Ziel ist es, den Gegner zu diskreditieren. So haben russische Geheimdienste mal die Meldung erfunden, das Aids-Virus stamme aus westlichen Kampflabors. Das machte Schlagzeilen.
Aber es gibt auch für die "active measures" der US-Dienste viele Beispiele, diese Technik wird im Fall des Whistleblowers Edward Snowden wieder eingesetzt. Hochrangige Sicherheitsbeamte erklären in Hintergrundgesprächen, hinter allem stecke der russische Geheimdienst FSB. Das wisse man zuverlässig ("completely reliable"). Der Abhörfall Merkel etwa sei eine Inszenierung des Kreml: "Man darf gespannt sein, was die Mitarbeiter des russischen FSB noch so alles in den streng geheimen Datensätzen ihrer Geisel Snowden gefunden haben, das sie demnächst gegen den Westen einsetzen können", orakelte am Wochenende eine deutsche Tageszeitung.
Snowden, der erst in Hongkong war und seit dem 23. Juni in Moskau ist, hat immer wieder betont, weder die Chinesen noch die Russen hätten Zugang zu seinem Material bekommen. Darauf legt der Amerikaner, der sich als Patriot versteht, großen Wert. Auch betont er, dass er über die Methoden der amerikanischen Dienste nichts nach draußen lasse. Er habe das Material nicht mit nach Moskau gebracht. Aber darf man ihm glauben? Entweder ist er, so die Kritiker, ein Verräter oder Geisel.
Die Wirklichkeit ist trivialer. Die Enthüllungen des Informanten Snowden laufen nach journalistischen und nicht nach geheimdienstlichen Gesetzmäßigkeiten: mehr Aufklärung als Verfolgungswahn, viel Feuer, wenig Rauch - das Gegenteil also von gewöhnlicher Geheimdienstarbeit.
Snowdens libertäre Ideologie
Diese Feststellung ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte dieses journalistischen Scoops, die viel mit Snowdens libertärer Ideologie zu tun hat: "Unabhängige Journalisten sollen sich ihr eigenes Urteil darüber bilden, was die Dokumente beinhalten", hat Snowden dem grünen Politiker Hans-Christian Ströbele in Moskau gesagt. Er habe zwar das "Ganze in Gang gebracht, aber Journalisten, Politiker, technische Experten und normale Bürger" bestimmten am Ende, "in welchem Ausmaß wir davon profitieren". Er verfolgt jetzt im Netz, was mit seinen Sachen passiert ( einige Videos vom Treffen in Moskau dokumentiert SZ.de hier).
Am 20. Mai flog Snowden von Hawaii nach Hongkong, um sein Material an Journalisten weiterzureichen. Anfang Juni traf er dort im Hotel The Mira die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, den damaligen Guardian-Blogger Glenn Greenwald und den in New York stationierten Guardian-Journalisten Ewen MacAskill.
Die drei Medienleute befragten Snowden zu Hintergründen. Er gab Material heraus. Am 5. Juni veröffentlichte der Guardi an die erste Enthüllung: Wie die US-Regierung das Unternehmen Verizon durch einen geheim gehaltenen Gerichtsbeschluss zwang, Telefondaten von Millionen US-Bürgern herauszugeben. Am 9. Juni tauchte das Gesicht von Snowden in einem Video auf. Gut zwölfeinhalb Minuten lang erklärte er seine Mission und berichtete über den Datenwahn der NSA. Danach suchte er Unterschlupf bei einem Bekannten und nahm kurz Kontakt zu einem Journalisten der South Morning Post auf.
Greenwald und Poitras verlassen dann Hongkong mit unterschiedlichem Material. Das von Greenwald ist mehr Stoff mit Blick auf die Amerikaner, das von Poitras mehr für die Europäer von Interesse. Poitras und Greenwald, die zu Hauptfiguren der Geschichte werden, erklären später, sie hätten Hongkong unter anderem deshalb verlassen, weil andere Presseleute aufgetaucht seien. Eine Rolle könnte aber auch gespielt haben, dass die Filmerin und der Blogger Amerikaner sind und fürchten mussten, in einem etwaigen Verfahren gegen Snowden wegen Beihilfe dranzukommen. MacAskill, der Verstärkung durch Kollegen bekam, blieb länger. Ihn interessierte die NSA, aber auch britische Angelegenheiten. Er erhielt deshalb das Material über die Aktivitäten des britischen Geheimdienstes Government Communications Headquarter (GCHQ) und die Kooperation dieses Geheimdienstes mit der NSA.
Drei ordentliche Quellen mit Bergen von Material. Mit Geheimdienst hat das nichts zu tun. Poitras, eine in der Branche hochanerkannte Dokumentarfilmerin, flog mit dem Stoff nach Berlin und tauchte bald als Mitarbeiterin bei Spiegel-Geschichten über den Snowden-Fall auf. Greenwald flog zurück nach Rio, arbeitete mit unterschiedlichen Medien zusammen und gab reichlich Interviews.
Der Guardian, derzeit wohl das beste investigative Blatt auf dem Globus, arbeitete mit großer Mannschaft an Geschichten über die NSA, aber natürlich auch über den heimischen GCHQ. Das Blatt steht wegen der besonders rigiden britischen Gesetze unter enormem Druck und kämpft tapfer für Aufklärung.
Bei keiner Entwicklung der Affäre ist die Handschrift eines Geheimdienstes zu erkennen
Verwalter des Materials waren also nicht Geheimdienstler, sondern Journalisten. Auch das Portal Wikileaks, das Snowden unterstützt, bekam kein Material zur eigenen Verwendung. Es bildeten sich in den vergangenen Monaten immer wieder neue Allianzen. Chefredakteure und Chefredakteurinnen großer Blätter reisten bei mutmaßlichen Verwaltern an, um auch Teile des Snowden-Materials zu bekommen. Es gibt ein hartes journalistisches Wettrennen; es geht um Kompetenz und Nicht-Kompetenz. Aber bei keiner Geschichte, keiner Entwicklung der Affäre ist die Handschrift eines Geheimdienstes zu erkennen.
In der Theorie, zugegeben, könnten die Enthüllungen über die belauschten Staatschefs einschließlich der Kanzlerin solche Spekulationen zulassen. In Erinnerung ist beispielsweise die Abteilung X der omnipotenten Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) der DDR, die über "Lancierungskanäle" mit zum Teil verfälschten Mitschnitten von Telefongesprächen in Westdeutschland Affären inszeniert hat. Das ist lange her.
Klar: Die Amerikaner wüssten gern, was Snowden alles beiseitegeschafft hat, und die Russen auch. Aber sie wissen es vermutlich nicht. Die Sortierung des Materials über die abgehörten Regierungschefs verlief ohne Geheimdienstler.
Natürlich reizt eine Figur wie Snowden zu Spekulationen. Er sei Buddhist, Veganer, esse nie Fleisch, so steht es in einigen Porträts. Beim Besuch der deutschen Gruppe in Moskau aß er ein Steak - und niemand hat ihn dazu gezwungen.