Auswanderung in Osteuropa:Lieber wie die Deutschen leben

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Do widzenia, Polska!: Pawel Pilsniak und seine Frau Anna leben in Neu Rosow nahe der polnischen Grenze. Aufnahme aus dem Jahr 2013. (Foto: REUTERS)

Millionen Bürger wohnen dauerhaft im Ausland: Polen erlebt die zweitgrößte Auswanderungswelle seiner Geschichte. Zwei Länder sind bei den Auswanderern besonders beliebt.

Von Klaus Brill, Warschau

Trotz der guten wirtschaftlichen Entwicklung ist Polen mit der zweitgrößten Auswanderungswelle seiner Geschichte konfrontiert. Wie das zentrale statistische Amt des Landes mitteilte, lebten im Jahr 2013 rund 2,2 Millionen Polen länger als drei Monate im Ausland, die meisten in Großbritannien und in Deutschland. Nach Schätzungen von Fachleuten könnte sich die Zahl in Wahrheit sogar auf 2,6 bis 2,7 Millionen belaufen, wenn man die Dunkelziffer einrechnet. Laut einer Meldung des Polnischen Rundfunks wäre dies vergleichbar mit der historischen Migrationsbewegung vor mehr als 100 Jahren, als etwa 3,5 Millionen Polen ihre Heimat verließen, auch in Richtung USA.

In jüngster Zeit belief sich der Rekordwert auf 2,3 Millionen Auswanderer im Jahr 2007. Die meisten von ihnen hatten sich nach dem EU-Beitritt 2004 auf den Weg nach Westeuropa gemacht, vor allem nach Großbritannien und Irland. 2013 lebten nach den Erhebungen des Statistischen Zentralamtes rund 650 000 Polen in Großbritannien. Auf dem zweiten Platz folgte Deutschland mit 560 000 Personen, obwohl dort bis 2011 die Freizügigkeit in der EU eingeschränkt war. Große polnische Volksgruppen gibt es auch in Irland (115 000), den Niederlanden (103 000), Norwegen (71 000) und Frankreich (63 000).

Als Motive für die Abwanderung nennen die Betroffenen in Meinungsumfragen und wissenschaftlichen Erhebungen vor allem, dass die Löhne und Gehälter im westlichen Ausland etwa das Dreifache oder mehr dessen betragen, was in Polen gezahlt wird. Dort lag das monatliche Durchschnittseinkommen 2013 bei 900 Euro, wobei in Metropolregionen und in bestimmten Branchen mehr, in anderen weniger verdient wird. Freilich sind im Ausland auch die Lebenshaltungskosten höher als in Polen.

Eine Hoffnung der polnischen Politik dürfte sich nicht erfüllen

Am stärksten ist die Abwanderung in den strukturschwachen Regionen Ostpolens, wo auch die Arbeitslosenrate am höchsten ist, nämlich bis zu 20 Prozent. Allgemein ist diese Quote im August von früher mehr als 14 auf jetzt 11,7 Prozent gefallen. Der Arbeitsplatz ist aber nur einer unter mehreren Gründen für die Emigration. Professor Maciej Duszczyk, Experte am Zentrum für Migrationsforschung der Universität Warschau, erklärte der Zeitung Rzeczpospolita, weitere wichtige Faktoren seien die Bürokratie und das dadurch bedingte mangelnde Vertrauen in die staatlichen Institutionen, etwa das Gesundheitswesen oder die Justiz.

Die Hoffnung vieler polnischer Politiker, dass die Emigranten nach ein paar Jahren mit neuen Kenntnissen und Fertigkeiten in ihre Heimat zurückkehren, gehen womöglich nicht in Erfüllung. Wissenschaftler nehmen an, dass die allermeisten der Ausgewanderten in der Ferne bleiben, zumal sehr viele von ihnen gerade in Großbritannien und Irland auch die Ehepartner und die Kinder zum Nachzug veranlassen.

"Die meisten Emigranten schlagen im Ausland Wurzeln", erklärte der Migrationsforscher Marcin Galent vom Europäischen Institut der Jagiellonen-Universität in Krakau. Er verwies zur Begründung auf den steilen Anstieg der Geburtenrate bei polnischen Familien in Großbritannien. "Nach Polen könnten sie vielleicht im Ruhestand zurückkehren", sagte er der Zeitung Rzeczpospolita.

Im Ganzen könnte dieses Phänomen zu einem weiteren Rückgang der polnischen Bevölkerung von derzeit 38,4 Millionen registrierten Einwohnern beitragen, zumal im Land die Geburtenrate niedrig ist. Rechnet man die 2,2 Millionen dauerhaft im Ausland lebenden Polen ab, so wäre man jetzt schon bei 36,2 Millionen.

Ein solches demografisches Problem beschäftigt auch die Politiker in anderen Ländern Mittel- und Südosteuropas, die ebenfalls in starkem Maße von Auswanderung betroffen sind. Der Nachbar Litauen zum Beispiel bilanzierte für 2013 einen Verlust durch Auswanderung allein von 8800 jungen Leuten im Alter von 14 bis 29 Jahren. Insgesamt ging die Bevölkerung nach Angaben des Statistischen Amtes in Vilnius 2013 um 28 100 oder ein Prozent auf 2,94 Millionen Einwohner zurück; gegenüber 2005 beträgt der Verlust sogar 12,3 Prozent. Ähnlich hohe Raten haben aufgrund einer starken Abwanderung vor allem jüngerer, gut ausgebildeter Menschen auch die beiden anderen Baltenstaaten Estland und Lettland sowie Bulgarien und Rumänien zu beklagen.

© SZ vom 26.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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