Genscher im Gespräch:"Ein Beitritt der Türkei ist im Interesse der EU"

Richtungsweisende Worte: Ex-Außenminister Hans-Dietrich Genscher über nationale Egoismen in der EU, deutsche Fehler - und die Leistung von Guido Westerwelle.

Peter Lindner

Hans-Dietrich Genscher (FDP) war von 1974 bis 1992 fast durchgehend Bundesaußenminister und Vizekanzler. Er gilt als eine der herausragenden Politiker-Persönlichkeiten in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Genscher hat unter anderem den europäischen Einigungsprozess entscheidend mitgeprägt. Er ist 83 Jahre alt und lebt in der Nähe von Bonn.

Hans-Dietrich Genscher Speaks at Foreign Journalists' Association

Hans-Dietrich Genscher: "Europa ist unsere Zukunft - wir haben keine andere."

(Foto: Getty Images)

sueddeutsche.de: Die Eurozone steckt in der Krise, nationale Egoismen treten immer stärker in den Vordergrund. Ist das Projekt europäische Einigung ernsthaft bedroht?

Hans-Dietrich Genscher: Die Renationalisierung des Denkens in der öffentlichen Debatte vieler Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland, sehe ich mit Besorgnis. Deshalb ist es wichtig, sich auf den Kern der Europa-Idee zu besinnen: Zuallererst die Lehren aus der Geschichte zu ziehen.

Schließlich haben wir es geschafft, nach den schrecklichen Erfahrungen der europäischen Bruderkriege und der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts in Europa eine neue Kultur des Zusammenlebens zu schaffen. Das hat uns zu einer Zone des Friedens und der Stabilität gemacht und uns nie gekannten Wohlstand beschert. Jeder muss erkennen, dass der gemeinsame Erfolg auch der gemeinsame Vorteil ist.

sueddeutsche.de: Manche werfen Kanzlerin Angela Merkel vor, dass sie eben nicht den gemeinsamen europäischen Erfolg, sondern zuallererst den nationalen Vorteil im Blick hat. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?

Genscher: Nein. Deutschland hat bei der Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise sehr wohl gezeigt, dass es konsensfähig und konsenswillig und vor allem solidarisch ist. Gleichzeitig ist es aber offenkundig, dass an den Problemen in Europa auch die Bundesrepublik beteiligt ist.

sueddeutsche.de: Was genau werfen Sie Deutschland vor?

Genscher: Die Kriterien für den Euro-Stabilitätspakt wurden in den vergangenen Jahren nicht immer ernst genommen. Da sind auch wir Deutschen nicht frei von Sünde und Verfehlung. Schlechte Beispiele, insbesondere wenn sie von Ländern wie Deutschland ausgehen, können auch bei anderen zu Leichtfertigkeit führen. In der Bundesrepublik müssen wir uns bewusst sein: Wir sind das größte Land in Europa mit den meisten Nachbarn. Deswegen haben wir nicht mehr Rechte, tragen aber eine größere Verantwortung für das Gelingen des europäischen Einigungsprozesses.

sueddeutsche.de: Aber genau dieser Verantwortung wird Deutschland aus der Sicht vieler nicht mehr ausreichend gerecht. Der Historiker Timothy Garton Ash hat es kürzlich einmal so formuliert: "Heute ist viel klarer, was Deutschland von Europa will, als was es für Europa will." Hat sich die Rolle Deutschlands verändert - vom Motor des Einigungsprozesses zum Bremsklotz?

Genscher: Nein, auch wenn mancher so daherredet. Es ist aber wichtig, dass die Europa-Debatte von den politisch Verantwortlichen sehr offen und offensiv geführt wird. Denn Europa ist unsere Zukunft - wir haben keine andere.

sueddeutsche.de: Ähnlich sieht es ihr langjähriger politischer Weggefährte Helmut Schmidt. Die deutschen Politiker müssten "den Bürgern erklären, dass wir und warum wir Deutschen Opfer zu bringen haben" - für das Zusammenwachsen Europas. Tun Politiker zu wenig dafür, die Bedeutung Europas den Bürgern verständlich zu machen?

Genscher: Ich denke schon, dass grundsätzliche Debatten über Europa zu kurz kommen. Ich würde aber nicht von Opfern sprechen. Denn die Vorteile, die wir aus der EU empfangen - nicht nur materiell -, sind so groß, dass von Opfern nicht die Rede sein kann. Wir müssen verstehen, dass wir in einer interdependenten Welt leben. Entfernte Gebiete gibt es nicht mehr. Eine Hypothekenkrise in den USA schlägt bis ins letzte bayerische Dorf durch. Das muss man sehen und politisch klug reagieren.

Es ist schon jetzt absehbar, dass das 21. Jahrhundert bestimmt wird von wenigen großen Staaten und von regionalen Zusammenschlüssen - wie die EU einer ist. Nicht der einzige, aber derjenige, der am stärksten die Integration vorangebracht hat. Das ist für uns Europäer eine unglaubliche Chance. Auch das muss man noch deutlicher herausstellen.

sueddeutsche.de: Ist es angesichts dieser neuen globalen Machtstrukturen notwendig, dass die Nationalstaaten noch mehr Befugnisse an Brüssel abgeben?

Genscher: Ja, Integration ist ein Prozess, der längst nicht abgeschlossen ist. Man schreitet dort fort, wo die Chancen für Fortschritte am größten sind.

sueddeutsche.de: Wo sind im Moment die Chancen am größten?

Genscher: Zum Beispiel zeigt sich in der Diskussion um die Probleme im Währungsbereich, wie notwendig es ist, dass wir zu einer kohärenten Wirtschaftspolitik kommen. Damals in den achtziger und neunziger Jahren hatte es in der innerdeutschen Diskussion über die Währungsunion eine Reihe beachtlicher Gegner gegeben, die einen Teilerfolg erzielten - indem sie sich mit dem Schreckenswort "europäische Wirtschaftsregierung" gegen eine immer stärkere wirtschafts- und finanzpolitische Kohärenz gewandt haben. Inzwischen haben alle verstanden, dass es in einer Währungsunion und dass es für die Europäische Zentralbank wichtig ist, dass sich die nationalen Wirtschaftspolitiken immer mehr einander annähern mit dem Ziel der Übereinstimmung. Hier ist neues Denken gefordert.

EU-Türkei-Debatte: "Rückwärtsgewandtes Denken"

sueddeutsche.de: Neues Denken verlangen viele auch bei der Erweiterungspolitik. Einer der Kandidaten, über dessen Beitritt am häufigsten gestritten wird, ist die Türkei. Halten Sie es trotz der zahlreichen anderen, inneren Probleme der EU für richtig, die gemeinsame Arbeit an einem Beitritt der Türkei zu forcieren?

Genscher: In den sechziger Jahren, zu Zeiten der Bundeskanzler Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, wurden der Türkei im Zusammenhang mit dem Assoziierungsabkommen klare Zusagen gemacht. Damals war es im Übrigen um die Beitrittsfähigkeit Ankaras nicht im Entferntesten so gut bestellt wie heute.

Außerdem ist bekannt, dass die EU für die Aufnahme neuer Staaten sehr kluge Regeln aufgestellt hat: Zum Zeitpunkt, an dem über den Beitritt zu entscheiden ist, muss das beitrittswillige Land beitrittsfähig sein und alle rechtsstaatlichen sowie ökonomischen Voraussetzungen erfüllen. Gleichzeitig ist es Bedingung, dass die Union aufnahmefähig ist.

Bis dahin jedoch müssen die Verhandlungen im Sinne der gegebenen Zusagen geführt werden: und zwar erfolgsorientiert. Nicht als Scheinverhandlungen. Das wäre unaufrichtig. Man muss zu seinem Wort auch international stehen. Im Übrigen ist ein Beitritt der Türkei auch im Interesse der Europäischen Union. Das werden wir noch merken.

sueddeutsche.de: Was genau meinen Sie?

Genscher: Unter anderem ist es ein großes Land, das in unserer Nachbarschaft am Mittelmeer eine wichtige politische Funktion hat. Es wäre ein Beispiel für das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher Religionen und es wäre eine Brücke zur islamischen Welt.

sueddeutsche.de: Gegner eines Beitritts führen oft die kulturelle und religiöse Prägung der Türkei als Argumente an. Was halten Sie davon?

Genscher: Ich glaube, dass sowohl der Katholik Konrad Adenauer wie auch der Protestant Ludwig Erhard wussten, dass sie selbst Christen sind und die Türken nicht. Das heißt: Diese Bundeskanzler, beide von der CDU, waren in ihrer kulturellen und religiösen Offenheit vor 50 Jahren weiter als manche, die heute über dieses Thema diskutieren. Kultur bedeutet ihrer Natur nach nicht Abgrenzung, sondern Offenheit und gegenseitige Bereicherung. Die kulturelle Entwicklung unseres Kontinents ist ein Beispiel dafür. Aus meiner Sicht ist viel rückwärtsgewandtes Denken am Werk, wenn über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei diskutiert wird.

sueddeutsche.de: Anders als die Türkei ist Ungarn bereits EU-Mitglied - seit 2004. Das Land, das Anfang Januar die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, hat im Januar mit einem neuen Mediengesetz die Pressefreiheit eingeschränkt. Viele in Europa geißeln das als inakzeptablen europäischen Sündenfall. Hat Brüssel hier richtig und rechtzeitig reagiert?

Genscher: Die Europäische Union ist kein Klub, der sich allein wirtschaftspolitisch definiert, sondern als Wertegemeinschaft. Die Pressefreiheit ist Ausdruck der inneren Liberalität unserer EU. Die Entwicklungen in Ungarn werden zu Recht ernst genommen. Und wenn sich die EU-Kommission jetzt einer genauen Prüfung widmet, halte ich das für richtig. Aber sie hätte damit vielleicht auch schon etwas früher beginnen können.

sueddeutsche.de: Wenn es um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, um Freiheits- und Menschenrechte geht, sind es ja vor allem die Europäer, die immer zuvorderst dafür eintreten und das auch weltweit einfordern. Ist es nicht ein fatales Signal an die Welt, dass Brüssel und führende EU-Staaten nicht entschlossener gegen eine solche Verletzung der Freiheitsrechte vorgehen?

Genscher: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind ein Charakteristikum der Union. Ich glaube aber, dass man weltweit verstanden hat, dass die Mitgliedsstaaten, das Europäische Parlament und die Kommission in dieser Frage eine klare Position haben. Diese Haltung wird nicht ohne Einfluss bleiben auf die weitere Entwicklung in Ungarn.

sueddeutsche.de: Nicht nur Freiheits- und Bürgerrechte, sondern insbesondere auch die Weiterentwicklung des Projekts europäische Einigung lag Ihnen und Ihrer Partei immer besonders am Herzen. Das scheint sich in der FDP gewandelt zu haben. Es wird kritisiert, dass Europapolitik kaum noch eine Rolle spielt und sich auch Außenminister Westerwelle zu wenig einbringt. Ist die einstige Europapartei FDP verstummt?

Genscher: Für eine solche Kritik gibt es keinen Anlass. Der Außenminister, der gleichzeitig FDP-Vorsitzender ist, spricht sich immer wieder mit großer Klarheit für eine entschlossene Europapolitik aus. Er ist ein überzeugter Europäer. Und in der Frage der Freiheits- und Bürgerrechte hat sich gerade der Generalsekretär mit großer Klarheit hinter die Bundesjustizministerin gestellt, die das rechtsstaatliche Gewissen der Regierung ist. Es war überhaupt gestern eine erfrischende Pressekonferenz des FDP-Generalsekretärs Lindner, der an eine gelegentlich in der Koalition vergessene Gemeinsamkeit erinnert, nämlich den Umstand, dass keiner der Partner allein die Mehrheit im Bundestag hat. Die Partner brauchen sich gegenseitig.

"Westerwelle führt sein Amt mit großer Kompetenz"

sueddeutsche.de: Außenminister Westerwelle sieht Sie als sein Vorbild an. Was sollte aus Ihrer Sicht insbesondere "liberale" Außenpolitik kenn- und auszeichnen?

Genscher: Verantwortungspolitik, Friedenspolitik und ein entschlossenes Eintreten für Menschenrechte und für Freiheit in dieser Welt, außerdem kommt es darauf an, globale Entwicklungen und Zeichen der Zeit frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Ein Beispiel dafür ist die von der FDP vertretene Politik der Entspannung zwischen West und Ost. Das war eine kooperative Politik, die die andere Seite bei allen Gegensätzen ernst nimmt. Heute sind die Liberalen dafür da, innerhalb der EU für Weltoffenheit und gegen Vorurteile einzutreten. Vorurteile vergiften das Denken und Handeln der Menschen.

sueddeutsche.de: Wird Westerwelle Ihren Ansprüchen und jenen an "liberale" Außenpolitik gerecht?

Genscher: Ja, ganz eindeutig. Er ist jetzt gut ein Jahr im Amt und man kann das, was in diesem Jahr erreicht wurde nicht messen an dem, was andere - wie ich - in langen Jahren als Außenminister erreichen konnten. Er führt sein Amt mit großer Verantwortung, Umsicht und Kompetenz. Man wird noch von ihm hören.

sueddeutsche.de: Wie Sie ist Westerwelle gleichzeitig Außenminister und Parteichef. Manche halten ihn aufgrund dieser Doppelbelastung für überfordert und plädieren dafür, dass er ein Amt abgibt.

Genscher: Das sehe ich anders. Beide Ämter zu übernehmen war und ist richtig.

sueddeutsche.de: Kürzlich besuchte der Außenminister die deutschen Soldaten in Afghanistan. In der Debatte um den Beginn des Abzugs hat sich die Bundesregierung mit "Ende 2011" nun auf einen konkreten Zeitpunkt geeinigt - obwohl Verteidigungsminister zu Guttenberg die Termindebatte im Prinzip für falsch hält. Was ist Ihre Position?

Genscher: Ich halte den konditionierten Zeitplan der Bundesregierung für richtig. Er erinnert die Verantwortlichen in Kabul daran, dass sie ihre Sicherheitsverantwortung endlich wahrnehmen müssen und er verwehrt den Taliban eine sichere Kalkulationsgrundlage. Außen- und Verteidigungsminister haben dem Kabinettsbeschluss zugestimmt. Dieser Beschluss schiebt zu Recht einem endlosen Einsatz in Afghanistan einen Riegel vor.

sueddeutsch.de: Der ehemalige Spitzendiplomat und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, rät in Afghanistan zu einer minimalistischen Zielsetzung: Nämlich Verhältnisse zu schaffen, die verhindern, dass das Land wieder Zufluchtsort für Terrorgruppen wird. Alles andere - Demokratie oder einen Rechtsstaat schaffen - seien Illusionen. Hat er recht?

Genscher: Wolfgang Ischinger rührt an einen wunden Punkt der bisherigen Afghanistanpolitik. Als der Einsatz begann, gab es kein politisches Konzept der Nato und keines der beteiligten Regierungen. Deshalb wird die Frage nach dem Ende der Mission immer wieder gestellt. Es ist nicht klar definiert, wann der Auftrag erfüllt ist. Eine Debatte darüber, was das Ziel sein muss und woran man das messen kann, ist somit wichtig.

Wenn das bei der diesjährigen Sicherheitskonferenz Anfang Februar konkretisiert würde, wäre das ein großer Vorteil für alle Beteiligten - für die Menschen in Afghanistan, aber vor allem auch für unsere Soldaten und deren Familien. Bei der Erstentscheidung über die deutsche Beteiligung fehlte es an einem Konzept und an angemessener Ausrüstung und Bewaffnung unserer Soldaten und Soldatinnen. Hier hat Minister zu Guttenberg eine deutliche Verbesserung eingeleitet und wenn er davon spricht, dass unsere Soldaten sich im Krieg befinden, dann macht das klar, was dieser Einsatz für jeden Soldaten bedeutet. Die völkerrechtliche Definition ist eine andere Kategorie.

sueddeutsche.de: Der Einsatz der Bundeswehr im Ausland, vor allem jener in Afghanistan, stößt in der Bevölkerung auf große Skepsis. Dennoch wird jener Einsatz nicht der letzte dieser Art sein. Wie sollte sich die Bundesregierung künftig in dieser Frage verhalten?

Genscher: Es ist falsch immer zuerst an Militäreinsätze zu denken, wenn in Wahrheit Politik gefordert ist - auch wenn ein solcher Einsatz in bestimmten Fällen letztlich notwendig sein kann. Ich bin mir aber sicher: Die skizzierten Versäumnisse bei der Entscheidung für den Afghanistaneinsatz werden sich nicht wiederholen. Man wird künftig mit größerer Umsicht entscheiden.

sueddeutsche.de: Worauf wird es für Deutschland und Europa in der neuen, multipolaren Welt vor allem ankommen?

Genscher: Es wird sehr wichtig sein, dass sich das Modell Europa, die neue Kultur des Zusammenlebens in der EU, auch weltweit durchsetzt. In Europa ist es uns gelungen, völlig unterschiedliche Entwicklungsstände zu einem gemeinsamen Erfolg zu führen.

Die EU kann der Welt einen Weg zeigen. Das ist Vision und Mission zugleich.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: