Im Sommer 1878 reiste der amerikanische Schriftsteller Samuel Langhorne Clemens durch den Südwesten Deutschlands, fuhr mit dem Floß den Neckar hinab, belustigte sich über Baden-Baden und schrieb anschließend ein liebenswert zynisches Buch über die Deutschen. Das war typisch für den Mann, den die Welt als Mark Twain kennt. Ihm wurde später für seine Entdeckungsreise ein Denkmal gesetzt: das Mark-Twain-Village in Heidelberg.
Freilich: Nicht die Deutschen zeigten sich durch den Bau dankbar. Es waren die US-Truppen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Heidelberg ein Hauptquartier aufschlugen und dort die Mark-Twain-Siedlung bauten. Im vergangenen Jahr sind die Soldaten abgezogen. Das Gelände soll nun anders genutzt werden: Öko-Wohnungen, Biotech, Universität - die übliche Mischung des Jahres 2014.
An die Amerikaner wird dann wohl nicht mehr viel erinnern. Die Stadt Heidelberg ist ein bisschen provinziell und mag kein Erinnerungszentrum - der Bürgermeister will wiedergewählt werden, die USA sind schwer verkäuflich. 22 Millionen GIs waren über die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland stationiert, das hat die Forschung gerade herausgefunden. Eine gewaltige Zahl. Was für ein Potenzial nicht nur für die Erinnerung - schmählich vernachlässigt.
Heidelberg gibt ein perfektes Beispiel ab für die spezielle Geschichtsvergessenheit der Deutschen und die Schnelllebigkeit der amerikanischen und damit auch der globalen Sicherheitspolitik. Allein die Jahre nach dem Mauerfall im Zeitraffer: Bush I war der Traditionalist, es ging ihm um alte Bündnisse und Legitimität von Macht; Clinton war der Internationalist, er vertraute auf die ökonomische Kraft der Globalisierung; Bush II war der Interventionist, er kanalisierte die Angst der Amerikaner in einer gewaltigen Kriegsanstrengung; Obama gibt den vorsichtigen Isolationisten, der den Rückzug befiehlt, manchmal Leidenschaft für Geopolitik aufblitzen lässt, aber tatsächlich Amerikas innere Schwäche heilen will.
Seit Barack Obama ist es zur Gewissheit geworden, dass die kurze hegemoniale Phase Amerikas vorüber ist. Das Land hat das Interesse und die Kraft verloren, ist erschöpft von seiner Hybris, die es als Antwort auf den Schock von 9/11 entwickelte. Der Zeitraffer zeigt aber auch: Die USA haben eine gewaltige historische Chance vertan.
Zbigniew Brzeziński, der große, alte Stratege, hat es auf die knappe Formel gebracht: Hätte man die Welt 1991 abstimmen lassen, wer die Geschicke der globalen Sicherheit steuern soll - die Wahl wäre mit überwältigender Mehrheit auf die USA gefallen. Heute sehen nicht nur die Deutschen in den USA eine Bedrohung für den Frieden. Dahinter verbirgt sich zwar eine ebenso absurde Verzerrung wie hinter den Weltenlenker-Phantasien. Aber diese Extreme belegen wenigstens, welche gewaltigen Fliehkräfte an der internationalen Ordnung zerren.
Zweieinhalb Jahre schon schaut die Welt dem Gemetzel in Syrien zu, ohne es stoppen zu können. Seit mehr als zehn Jahren muss die arabische Welt den Boom des militanten Islam hinnehmen, ohne ein probates Mittel dagegen zu finden. Immer lauter wird in Ostasien nach einer politischen Sicherheitsarchitektur gerufen, mit deren Hilfe sich Spannungen und nationalistische Ausbrüche abfedern ließen. Und in Nahost versucht ein US-Außenminister wieder mal das Unmögliche: Zwei Staaten, Israel und Palästina, sollen in Frieden miteinander leben können. Sollte auch John Kerry scheitern, dann wird sich so schnell keiner mehr aufraffen.
So also fühlt sie sich an, die multipolare Welt, die von vielen ersehnt wurde. Keine Macht für niemanden. Allein - solche Nullsummenspiele kennt die Weltpolitik nicht. Nichts anderes haben die vergangenen Jahre bewiesen. Es gibt keinen ewigen Frieden und kein Ende der Geschichte. Der Historiker Charles Kupchan schrieb 2012 von einer Welt, die keinem mehr gehört, no one's world - ein Globus ohne politischen Gravitationspunkt, ohne Zentrum, ohne Übermacht.
Es ist deshalb kein Zufall, dass nun auch in Deutschland diese Vakuumswelt entdeckt wird. Die Ukraine steht vor dem Bürgerkrieg, in Lampedusa stranden Flüchtlinge, die Europäische Union hat ihre (deutsch-französische) Balance verloren. Wenn nun der Bundespräsident, der Außenminister und die Verteidigungsministerin zur selben Zeit dasselbe Lied von der deutschen Verantwortung anstimmen, dann steckt da keine Tageslaune dahinter, sondern die ernsthafte Sorge um Platz und Rolle des Landes in der Welt.
Es ist Unfug, diese Sorge auf die Zahl der zu entsendenden Soldaten zu reduzieren und mit der bekannten Rhetorik-Keule von der Militarisierung der deutschen Außenpolitik zu erschlagen. Diese Verknappung belegt ja geradezu, wie verkümmert die Phantasie über die Wirkungsmöglichkeiten der deutschen Politik jenseits der eigenen Grenzen ist. "Sicherheit bleibt eine Existenzfrage", sagt der Bundespräsident in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Diese Rede gehört in den Pflichtenkanon der Gesellschaftskunde. Freilich scheint diese Gesellschaft inzwischen anderer Meinung zu sein.
Keine Sorge: Die Welle, die gerade deutsche Spitzenpolitiker ausgelöst haben, wird die Tradition der bundesrepublikanischen Außenpolitik nicht hinwegspülen. Wer schon uniformierte Strategen an Sandkästen stehen sieht, der verzerrt mutwillig Gaucks Absicht. Der Bundespräsident hat ein gewaltiges gesellschaftliches Defizit erkannt. So wie die Weltpolitik kein Vakuum kennt, so kann sich auch die deutsche Politik nicht von einer der tragenden Säulen einer souveränen Demokratie verabschieden: der Sorge um ihre äußere Sicherheit.
Diese Sicherheit sehen in der Tat wenige in Gefahr. Niemand bedroht das Land. Und wer sich einmischt in der Welt, riskiert allenfalls Ärger. Aus dieser Logik hat sich eine defensive Bequemlichkeit breitgemacht, die der vorherige Außenminister als "Kultur der Zurückhaltung" pries. Die speziell deutsche Ausformung des Nullsummenspiels hat bei den Freunden allerdings den genau gegenteiligen Reflex ausgelöst und den Vorwurf von Passivität und Selbstgefälligkeit provoziert. "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit", sagte der polnische Außenminister Radek Sikorski.
Deswegen, so Gaucks Mahnung, muss sich das Land Gedanken machen, wie es seine Macht klug und fruchtbar einsetzt. Das ist ein Appell, den Horizont zu weiten, seine Grenzen zu kennen, aber auch zu wissen, wie man in der Niemandswelt die falschen Grenzen verhindert. Denn diese Welt - siehe das Heidelberger Mark-Twain-Village - hat keine Beständigkeit.