Die jährliche "Konferenz der Leiterinnen und Leiter deutscher Auslandsvertretungen" ist so etwas wie ein Klassentreffen der Diplomatie: vier Tage lang Austausch zwischen den Botschafterinnen und Botschaftern und mit der Spitze des Hauses. Und eine Gelegenheit für Ministerin Annalena Baerbock, ihren Leuten an etwa 230 Repräsentanzen Grundsätzliches mitzugeben.
Vergangenes Jahr rief sie zu einem Kulturwandel in der Kommunikation auf: Lieber auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, der inzwischen "X" heißt, in einen Shitstorm geraten, als in der Öffentlichkeit des Gastlandes keine Rolle zu spielen. Die Teilnehmer der im Amt liebevoll "BoKo" (Botschafterkonferenz) genannten Veranstaltung ließen es sich nicht zweimal sagen: Emily Haber lieferte sich in Washington Twitter-Duelle mit dem republikanischen Senator J.D. Vance, der Deutschland harsch kritisierte. Ihr neuer Staatssekretär Thomas Bagger, zuvor Botschafter in Warschau, verwehrte sich gegen Anfeindungen der polnischen Regierung. Und in Indien schaffte Philipp Ackermann mit dem Video einer Tanz-Einlage einen kleinen Social-Media-Hit.
Für Deutschlands Rolle gibt es seit Beginn des Ukraine-Kriegs keine Blaupause
Diesmal buchstabierte Baerbock so deutlich wie selten zuvor den Gestaltungsanspruch der deutschen Außenpolitik aus - als angemessene Reaktion auf die Veränderungen der Welt: den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch Chinas Aufstieg zur wirtschaftlichen und geopolitischen Supermacht und die zunehmend multipolare Natur der internationalen Beziehungen.
Baerbock geht durch die Phasen der deutschen Außenpolitik: jene nach den Verbrechen des NS-Regimes, eine zweite, die mit der Aufnahme der Bundesrepublik und der DDR in die Vereinten Nationen begonnen habe, und eine dritte mit den Umbrüchen in Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung. Damals habe es - zu Recht - in Weisungen an die Missionen bei den UN oder anderen multilateralen Institutionen oft geheißen, man werde sich "einem sich abzeichnenden Konsens nicht verschließen".
Aber während Scheckbuchdiplomatie und politische Zurückhaltung ihre Zeit gehabt hätten, habe sich schon mit den Balkan-Kriegen die Rolle Deutschlands drastisch verändert - unter Joschka Fischer, dem ersten grünen Außenminister, für Baerbock politisch eine prägende Figur. Außenpolitik könne man nicht "einfach aus der Vergangenheit kopieren", sondern müsse sie ständig neu denken. Heute gehe es um vernetzte Sicherheit, internationale Klimapolitik, die globale Eindämmung von Krisen und Konflikten, die Bekämpfung von Armut, Hunger und Leid. Das Risiko, dabei zu scheitern, sei nicht auszuschließen, sagt Baerbock - wie in der Sahel-Zone. Das aber, so sinngemäß, dürfe nicht abhalten davon, nach neuen Ansätzen, neuen Lösungen zu suchen.
Ausgangspunkt für Baerbock bei all diesen Überlegungen ist Deutschlands Rolle in einem vereinten Europa. Diese habe sich durch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende schon drastisch geändert - auch dafür habe es keine Blaupause gegeben. Jetzt müsse Deutschland die Erweiterung und Integration der EU entschlossen vorantreiben.
Plädoyer für Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik der EU
Sie bekräftigte, die Ukraine, Moldau, die Staaten des westlichen Balkan und perspektivisch auch Georgien sollten der EU beitreten. Zugleich müsse man daran arbeiten, dass Europa mit mehr als 30 Staaten stark und handlungsfähig bleibe. Deswegen setze sich Deutschland zusammen mit Partnern für Mehrheitsentscheidungen in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ein. Auch neue Formen der europäischen Institutionen und der Kohäsionspolitik halte sie für nötig. Die EU müsse als geopolitischer Akteur gestärkt werden.
Wer die Erweiterung wolle, "muss sich auch dafür einsetzen, dass die EU die dafür notwendigen Reformen" vorantreibe. Baerbock kündigte an, noch vor dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs im Dezember in Berlin zu einer großen Europakonferenz einzuladen, um "zu diskutieren, was die nötigen Schritte für uns in der Europäischen Union mit Blick auf die Erweiterung, die dafür zugrunde liegenden Reformen sind".
Mehrmals betonte Baerbock, dass Deutschland immer als "fairer Teamplayer" auftreten wolle - der von ihr formulierte Führungsanspruch soll niemanden vor den Kopf stoßen und kommt eingebettet in ein starkes Bekenntnis zur regelbasierten multilateralen Ordnung daher. Wenn Multipolarität heiße, dass noch "mehr Große die Ordnung im Hinterzimmer unter sich ausmachen", sei das ein Albtraum für die kleinen und mittleren Staaten, warnt sie.
Sie kündigte an, Deutschlands globale Partnerschaften auszubauen, stärker mit den Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens zusammenzuarbeiten und internationale Organisationen sowie das Völkerrecht weiterzuentwickeln. Dabei müsse man offen sein für die Anliegen der Partner und selbstkritisch die eigene Vergangenheit einschließlich der Kolonialgeschichte reflektieren. Auch müssten die Staaten gehört werden, etwa im UN-Sicherheitsrat. Und, nicht zuletzt, müsse man sehen, was andere anbieten - China vor allem.
Da hatte der Ehrengast, die Generaldirektorin der Welthandelsorganisation Ngozi Okonjo-Iweala, die aus Nigeria stammt, mahnende Worte parat. Der Westen habe viele Chancen verpasst. In Afrika sei es Realität, dass die Menschen Verbesserungen durch neue Infrastruktur mit Hilfe aus China sehen würden, sagte sie. Von manchem Kollegen höre sie, wenn man mit China kooperiere, "bekommen wir einen neuen Flughafen", aus Europa dagegen gebe es "Belehrungen". So drastisch hätte wohl selbst Baerbock, die eine "wertebasierte Außenpolitik" verteidigte, die Selbstkritik nicht formuliert.